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Gleichgewicht

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Mensch und Umwelt stehen im Zentrum der grünen Chemie

Dr. Gerhard Schilling (succidia AG)

Die chemische Industrie stellt große ­Mengen an Produkten her, von denen die Gesellschaft in großem Maße abhängig ist. Sie umfassen Medikamente, Kunststoffe, Agrarchemikalien, Öle, Waschmittel, ­Lebensmittelzusätze usw. Trotz dieser enormen Bedeutung erweisen sich manche Chemikalien und die Herstellungsprozesse als ­schädlich für Mensch und Umwelt. Bereits 1991 startete deshalb die amerikanische Umweltbehörde zur Vermeidung von Umwelt­verschmutzung und Giftstoffen das Programm „Alternative ­Synthetic Pathways for Pollution Prevention“. Heute befassen sich damit weltweit Industrie und Universitäten mit dem Ziel, sich bei der Produktion, der Verwendung und dem Verbleib von Chemikalien an Grundsätze zu halten, die den Anforderungen an einen idealen Pro­duktionsprozess ­nahe kommen.

Der Begriff „grüne Chemie“ ist nicht eine Erfindung grüner Parteien und ihrer Politiker, ihre Wurzeln reichen weit bis in die 1950er-Jahre zurück. Damals hatte die Firma Henkel angesichts der hohen Konzen­trationen von Waschmitteln im Rheinwasser ein Monitor-System entwickelt, um die biologische Abbau­barkeit dieser Substanzen zu studieren. An diesen Erkenntnissen orientierten sich danach die ­Forschung und Entwicklung, dies führte z.B. zur Einführung von Zeolith A als Alternative zu den Phosphat-Detergentien. Sie hatten in der BRD zur Eutrophierung von vielen Gewässern durch über­schießendes Algenwachstum geführt.

Nachhaltige Entwicklung

Mit diesem Programm eng verknüpft ist das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development), dessen ursprüngliche Definition von Hanns Carl stammt, Edler von Carlowitz im damaligen Sachsen des 18. Jahrhunderts. Er forderte, dass sich bei der Waldbewirtschaftung der Einschlag von Holz und das Anpflanzen junger Bäume im Gleichgewicht halten müssen, um die Nachfrage nach Holz für den Silberminenbetrieb zu sichern.

Heute ist dieser Begriff wesentlich weiter gefasst, man versteht darunter die Entwicklung ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Verhältnisse, welche die Bedürfnisse der heutigen Generation zwar befriedigen, aber die der künftigen Generationen nicht gefährden (Brundtland-Report, University Press, New York 1987). Dazu müssen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse sowie die Nutzung natürlicher Ressourcen und die Belastung der Umwelt so aufeinander abgestimmt sein, dass sie miteinander im Gleichgewicht stehen. Um eine nachhaltige Entwicklung zu realisieren, ist eine dynamische Planung erforderlich, welche die gesteckten Ziele ständig überprüft und gegebenenfalls korrigiert.

Abb. 1 Produktion auf Basis von Erdöl bzw. Biomasse

1992 wurde die Agenda 21 von 179 Staaten auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro verabschiedet und kann als der Beginn einer weltweiten nachhaltigen Umweltpolitik angesehen werden. Sie fordert die Regierungen dazu auf, national für eine nachhaltige Entwicklung zu sorgen. Für die chemische Industrie bedeutet dies, den Schutz der Umwelt, die Gesundheit und Sicherheit der Mit­arbeiter und Bürger ständig zu verbessern. Die chemische Industrie ist deshalb an einer möglichst idealen Herstellung (cleaner production) von Produkten gelegen. Dazu müssen die Herstellungsprozesse sicher, effizient und unter Einbeziehung nachwachsender Rohstoffe umweltschonend ausgelegt sein. Die Er­schließung von Biomasse für die Produktion von Chemikalien, Kunststoffen und Treibstoff ist deshalb ein wichtiges Ziel. Die Nutzung dieser nachwachsenden Rohstoffe wird deshalb die Chemiewirtschaft in den kommenden Jahren grundlegend ändern, denn eine Umstrukturierung zu einer nachhaltigen Biomassewirtschaft mit den Basis­technologien Bio­energie, Biokraftstoffe und Produkten auf Biobasis ­ist unabdingbar.

Biomasse als Rohstoff

Die gegenwärtigen Produktionsverfahren lassen sich auf Erdgas und Erdöl zurückführen (Abb. 1). Sie bilden ein weit verästeltes Netzwerk von Fabrikationseinheiten, das im Idealfall an einem Ort (z.B. BASF, Degussa) konzentriert ist und Zwischenprodukte, Nebenprodukte und Reaktionswärme, aber auch Ent­sorgung und Wasseraufbereitung intern mit hoher Effizienz reguliert.

Abb. 2 Atomökonomie bei der Synthese von ­Propansäure aus Ethen und Glucose (rot: Abfall, der das Ausgangsmaterial verteuert)

Dieses Netzwerk muss in Zukunft auf die Grundlagen nachwachsender Rohstoffe umgestellt werden. Die Biorohstoffe Holz, Getreide, Mais, Zuckerrüben, Raps wachsen im Laufe relativ kurzer Zeiträume nach. Sie müssen in einem ersten Schritt in ihre Bestandteile zerlegt werden, z.B. Cellulose, Stärke, einfache Kohlenhydrate, Lignin, Öle und Fette. Zurzeit werden allerdings Kohlenhydrate noch wenig genutzt, obwohl sie mit über 75 % den Hauptanteil der Biomasse ausmachen. Gerade sie stellen mit ihrer hohen Funktionalität eine innovative Rohstoffquelle dar. Industriell genutzt werden heute im Prinzip nur die Ether- und Esterderivate der Zucker. Sie sind als Folien, Fasern, Tenside, Emulgatoren und Weichmacher im Handel. Von Bedeutung wird es in Zukunft sein, aus Zuckern mehrfach funktionalisierte Bausteine bio- ­technisch oder chemisch herzustellen und diese in eine ­Vielzahl von hochwertigen Chemikalien zu konvertieren. ­Gesucht wird nach „stammbaum­fähigen“, molekularen Bausteinen aus Zuckerquellen, die sich baukastenartig kombinieren lassen. Aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit verfügen solche Substanzen über eine Reihe von Eigenschaften, die denen der Petrochemikalien überlegen sind. Zu nennen sind hier vor allem die erhöhte Wasserlöslichkeit, die Bioabbaubarkeit und die Enantiomeren-Reinheit der Vorstufen für den Feinchemikalienbereich. Ein grundsätzliches Problem der Umwandlungen von Kohlenhydraten ist der Massenverlust (Abb. 2), der durch Dehydratisierung und Decarboxylierung verursacht wird und im Widerspruch zu einer grünen Chemie steht. Durch diesen Verlust erhöhen sich die Kosten der eingesetzten Ausgangsmaterialien. Dagegen ist die Funktionalisierung von Olefinen, die aus den klassischenpetrochemischen Prozessen stammen, ein hoch effektives Verfahren, denn bei den Additionsreaktionen erhöht sich die Masse des Produkts.

Ausblick

Bis vor 250 Jahren war der Einfluss des Menschen auf die Umwelt fast vernachlässigbar. Mit der Industrialisierung hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre drastisch verändert. So hat sich der CO2-Gehalt der Luft, der in den letzten 650.000 Jahren bei 180–280 ppm lag, auf heute beängstigende 380 ppm erhöht. Der Mensch hat es also in kürzester Zeit fertiggebracht, das System Erde so zu stören, wie es gerade ein einziger Eiszeitzyklus in 100.000 Jahren vermocht hat. Außerdem hat er durch intensive Landwirtschaft und Verbauung von Landflächen die Strahlungs- und Energiebilanz der Erde sowie den Wasserkreislauf empfindlich gestört. Die grüne Chemie steht erst am Anfang ihrer Entwicklung, ihr wird schon in nächster Zukunft eine überragende Bedeutung zukommen, muss sie doch die klassische Chemie auf der Basis fossiler Rohstoffe ablösen. Zwar werden jetzt schon Prinzipien grüner Chemie bei ­Produktionsprozessen verwirklicht, aber es geht noch viel zu langsam voran. Hoffen wir, dass es in An­betracht des nun signifikanten Weltklimawandels erst „fünf vor zwölf“ ist und die „zwölf Gebote“ grüner Chemie noch greifen können.

Die zwölf grünen Gebote

Die für Green Chemistry formulierten Grundsätze wurden 1998 von P. T.
Anastas und J. C. Warner publiziert (Green Chemistry: Theory ans Practice; Oxford University Press: New York 1998, Seite 30) und umfassen zwölf Leitsätze:
    1    Abfall vermeiden.
    2    Maximale Ausbeute erreichen.
    3    Den Gebrauch und das Entstehen ­ge­fährlicher und toxischer Substanzen ­vermeiden.
    4    Produkte mit minimaler Toxizität herstellen.
    5    Sichere ­Lösungsmittel und Hilfsstoffe, den Einsatz dieser Stoffe möglichst ­vermeiden.
    6    Den Energie­verbrauch eines Prozesses minimieren.
    7    Nachwachsende Rohstoffe ein­setzen.
    8    Maximierung der Atom­ökologie. Reaktionen ­sollen so ablaufen, dass möglichst alle Atome der Startmoleküle sich im End­produkt wiederfinden.
    9    Mit Katalysatoren die Umsetzung fördern.
  10    Der Zerfall von chemischen Produkten soll zu ungefährlichen Stoffen führen.
  11    Schnelle Analyseverfahren zur direkten Prozesskontrolle entwickeln.
  12    Bei der Auswahl von Rohstoffen das ­Unfallrisiko minimieren.

Erstveröffentlichung: Schilling, G., q&more, 1.2010.

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