Die meisten Leiter pharmazeutischer F&E-Abteilungen definieren translationale Medizin als den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Klinik unter Zuhilfenahme neuartiger Analysemethoden, die es im Vergleich zur herkömmlich organisierten Forschung viel früher erlauben, Schlussfolgerungen über das Verhalten/Abschneiden von Medikamentenkandidaten zu ziehen. Die translationale Medizin verwendet hierzu Informationen, die kostengünstig generiert werden können und bereits früh im Prozess der Medikamentenentwicklung zur Verfügung stehen. So können die Zeit bis zur Entscheidungsfindung verkürzt und Kosten eingespart werden. Der Ausfall von Wirkstoffkandidaten in späten Entwicklungsphasen wird geringer, da von vornherein viel versprechendere Kandidaten in klinischen Studien getestet werden können. Im gegenwärtigen Forschungsalltag finden sich bereits viele Beispiele für die translationale Medizin: allometrische Skalierungen, verstärkter Einsatz von Biomarkern anstelle von traditionellen klinischen Endpunkten und die Individualisierung von Dosierungen auf Basis genetischer Profile.
Intellektuelle Herausforderung
In Bezug auf die Medikamentensicherheit und -wirksamkeit gibt es eine Fülle von Aspekten, deren Vorhersage auf Basis frühzeitig in der Entdeckung oder Entwicklung verfügbarer Informationen interessant wäre. Das Aufdecken neuer prädiktiver Zusammenhänge und deren sinnvolle Einbindung in reale Forschungsprojekte ist oftmals ein integrativer, iterativer und exploratorischer Vorgang. Es gibt viele potenziell interessante, aber auch eine Reihe von unproduktiven Zusammenhängen, die sich aus den zusammengetragenen Daten verschiedener Forschungseinrichtungen ergeben. Der translationale Mediziner benötigt für seine produktive Arbeit neuartige IT-Werkzeuge, die ihm die auf das eigene Institut fokussierte Forschungs-IT nicht so ohne Weiteres zur Verfügung stellen kann. Hierbei handelt es sich um nahtlose Feedback-Systeme oder -Loops, mit denen der translationale Mediziner zeitnah eine Reihe von translationalen Hypothesen testen und mögliche Zusammenhänge dokumentieren, entkräften oder bestätigen und anschließend weiterverfolgen kann.
Neue Wege in das „gelobte Land“
Abb. 1 Herkömmlicher F&E-Ablauf
Das Versprechen der translationalen Medizin kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Finanzierungsdruck an
der Schnittstelle Entdeckung/Präklinik so groß ist wie nie zuvor. Diese ist nicht die einzige, aber eine besonders wichtige Phase in der Medikamentenentwicklung, die in der translationalen Medizin einen Unterschied machen kann. Das Finanzierungsloch im Bereich Entdeckung/Präklinik ist auch als „Tal des Todes“ bekannt (siehe. Abb. 1, 2).
Innovation gibt es noch immer (siehe jeweils linke Spalte der Abbildungen). Einige Experten sind der Ansicht, dass sich die Innovation aufgrund der „-omiks“-Explosion, die in den Universitätslaboren und staatlichen Laboren stattfindet, sogar noch beschleunigt. Nach dem derzeitigen Stand (siehe Abb. 2) ist die Finanzierung der Entdeckung/Präklinik jedoch rückläufig und lässt so zwischen der Innovation auf der einen Seite und der späten Entwicklungsphase auf der anderen Seite ein „Tal des Todes“ entstehen. Das Engagement der Pharmaindustrie, Risikokapitalgesellschaften und öffentlichen Märkte/IPO, die zuvor reichlich Mittel zur Kommerzialisierung viel versprechender Innovationen zur Verfügung stellten, hat sich weg von der mit einem hohen Risiko behafteten frühen Entwicklungsphase hin zu späteren Entwicklungsphasen mit geringerem Risiko verlagert. Daher müssen die Pharmaindustrie und die Biotechunternehmen neue Wege in der Zusammenarbeit finden, wenn ausgewählte Wirkstoffkandidaten das „Tal des Todes“ durchschreiten und das „gelobte Land“ der späten klinischen Entwicklung und der behördlichen Genehmigung erreichen sollen.
Abb. 2 Derzeitiger Stand der pharmazeutischen F&E
Die neue, durch die Kapitalmärkte aufgezwungene Realität führt zu seit Längerem vorhergesehenen und weitgreifenden Veränderungen in der Medikamentenentwicklung. Kommerzielle Organisationen arbeiten zur Risikoabschwächung verstärkt zusammen. So haben zum Beispiel Pfizer und GSK kürzlich ein Joint Venture für die Entwicklung von HIV-Therapien gegründet. Die großen Pharmakonzerne entwickeln strategische Partnerschaften mit renommierten akademischen Einrichtungen. In diese Partnerschaften fließen die Forschungsgelder nicht, wie in der Vergangenheit üblich, uneingeschränkt in Forschungsprojekte, sondern dienen dazu, sich den Zugang zu neuer Wissenschaft und neuen Molekülen zu erkaufen. So teilt sich Pfizer mit ausgewählten akademischen Zentren die Kosten für das IP, um im Gegenzug dafür Optionen auf die spätere Entwicklung eines Wirkstoffkandidaten zu bekommen. Darüber hinaus initiiert Pfizer neue präkompetitive Kollaborationen, erhöht die Ausgaben für Einlizenzierungen und ermächtigt die F&E-Leiter, interne Budgets bei passender Gelegenheit extern zu investieren1.
Notwendige Veränderungen
Wir beobachten auch organisatorische Veränderungen. Sowohl an den Universitäten als auch in der Industrie wurden Arbeitsgruppen im Bereich der translationalen Medizin mit dem Ziel etabliert, den Transfer der riesigen neuen Datenmengen in neue Medikamente für die Behandlung humaner Erkrankungen zu verbessern. Mindestens 39 Pharma- und Biotechunternehmen haben in der einen oder anderen Form die translationale Medizin2 in ihre Organisation integriert.
Ebenso sind auf staatlicher Seite Veränderungen zu beobachten, die auf die zunehmende Akzeptanz und Integration der translationalen Medizin mit einer Reorganisation und Umverteilung von Geldern und Ressourcen reagieren. Das NIH hat seine Roadmap for Medical Research (498 Mio. USD für das Jahr 2008) herausgegeben und plant bis zum Jahr 2012 weitere 60 Standorte aufzubauen und zu finanzieren. Die FDA
hat das Critical Path-Dokument3 veröffentlicht und eine Reihe von Projekten initiiert, die den Transfer von Innovationen in die Therapie verbessern sollen. Innerhalb der CDER-Organisation hat die FDA ein Office of Translational Sciences eingerichtet.
Abb. 3 Beispiele für notwendigen Datenaustausch zur Optimierung translationaler Medizin
Die Reorganisation ist wahrscheinlich eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für eine erfolgreiche Anwendung der translationalen Medizin. Es werden noch viele weitere Veränderungen nötig sein, um die vielen Hindernisse, die sich den translationalen Forschungsansätzen in den Weg stellen, zu beseitigen. In großen Organisationen werden die vorhandenen Budgets, Prioritäten und Belohnungssysteme durch verschiedene Abteilungsleiter festgesetzt. Dieses Vorgehen kann translationalen Initiativen entgegensteuern und zu einer Suboptimierung des ganzen Systems führen. Zudem haben Wissenschaftler ihre eigenen Ansichten zu bestimmten Problemen, lesen unterschiedliche Zeitschriften, gehen auf verschiedene Konferenzen, sprechen ein jeweils anderes „Fachkauderwelsch“ und bevorzugen, je nach akademischer Ausbildung, einen unterschiedlichen Wahrnehmungsrahmen (engl. mental framework) und unterschiedliche Werkzeuge. Diese Unterschiede zwischen Wissenschaftlern können die Kommunikation und den Wissensaustausch erschweren. Und zu guter Letzt werden translationale Informationen nicht zielgerichtet von den verschiedenen Einrichtungen erzeugt, sondern ohne ein übergeordnetes Konzept einfach zusammengetragen (Abb. 3). Verschiedene, für die translationale Medizin benötigte Datensätze müssen ad hoc erzeugt werden. Verfügbare Datensätze sind nicht miteinander verbunden und können nicht ohne Weiteres abgerufen und analysiert werden. Daraus resultiert, dass viele nützliche Analysen niemals durchgeführt werden (dauern zu lange) und dass ad hoc-Analysen nur schwerlich verwendet, erneut bestätigt oder weitergegeben werden. In den Bereichen Modelling und Analytik benötigt die Wissenschaft die Extrapolation von Ergebnissen einer Forschungseinrichtung auf die einer anderen Einrichtung und letztendlich die Ergebnisse der F&E-Organisationen auf den behandelten Patient am Markt, eine besondere (und selten vorhandene) Expertise in Mathematik, ein sorgfältiges Urteilsvermögen und ein solides Verständnis der Einschränkungen solcher Rückschlüsse.
Lösungsansätze
Eine Reihe von IT-Anbietern sucht nach Lösungen, die das „Tal des Todes“ mittels verbesserter Datenintegration überbrücken und so die translationale Medizin ermöglichen. Unser Unternehmen4 ist der Meinung, dass tragfähige Lösungen für eine erfolgreiche translationale Medizin folgende Schlüsselmerkmale aufweisen werden:
Die Wirtschaftlichkeit der Informationsspeicherung.
Praktikable Lösungsansätze in der translationalen Medizin werden nicht darauf abzielen, bereits existierende Daten immer wieder abzuspeichern, sondern stattdessen einen nahtlosen, browserartigen Zugang für alle Wissenschaftler im Unternehmen herzustellen.
Elegante Integration wissenschaftlicher Daten und relevanter Metadaten. Die translationale Medizin besteht aus viel mehr als nur der Integration von Datensätzen. Wissenschaftler benötigen Zugang zu wichtigen Informationen zum Kontext und den Einschränkungen von Daten, um diese rational und sinnvoll interpretieren und entsprechende Rückschlüsse ziehen zu können.
Flexible, leistungsstarke und einfach zu bedienende Abfragemaschinen. Translationale Medizin kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Abfragen nicht zu mühselig und zeitaufwändig sind. Das Zusammenstellen von Abfragen muss einfach und intuitiv sein, wobei der Vorgang als solcher keine besondere Expertise benötigen darf. Die Reaktionszeiten für das Abfragen multipler Datensätze müssen mit Internetrecherchen vergleichbar sein. Sie dürfen allerhöchstens wenige Sekunden dauern.
Hier ein Beispiel: Ein Wirkstoff, der sich in einer klinischen Studie befindet, entwickelt ein Sicherheitsproblem (z.B. Lebertoxizität). In diesem Zusammenhang kann der translationale Mediziner verschiedene Fragen formulieren:
- Gab es präklinische Biomarker (z.B. reduziertes Albumin), die auf das UE hingewiesen haben oderes hätten vorhersagen können?
- Ist das Auftreten oder die Schwere des UE mit steigender Exposition (Dosis, AUC, Cmax etc.) assoziiert?
- Enthält die Datenbank andere Wirkstoffe, die strukturelle Ähnlichkeiten mit dem problematischen Wirkstoffkandidaten aufweisen? Wenn ja, gab es für diesen Wirkstoff ähnliche präklinische und/oder klinische Ergebnisse? Mit anderen Worten: Stellt das UE ein Ereignis dar, das aufgrund der Struktur des Moleküls hätte vorhergesagt werden können oder müssen?
- Gibt es andere präklinische Messwerte, die mit dem UE zu korrelieren scheinen? Ist das Auftreten des UE mit anderen individuellen oder gehäuft aufgetretenen UE assoziiert?
Genügend Leistungsfähigkeit, um die Dosis-Wirkungs-Beziehung zu bestimmen. Das „Tal des Todes“ ist solange nicht durchschritten, bis man nicht die Dosis-Wirkungs-Beziehung bestimmt hat, wobei die Dosis kompetitiv und gut verträglich sein sollte. Ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung einmal bestimmt, dann kann der Verbund aus Pharmaindustrie, Risikokapital und öffentlichen Geldern den Wirkstoffkandidaten auf den Markt bringen und das „Tal des Todes“ hinter sich lassen. Die Bestimmung der Dosis-Wirkungs-Beziehung bedeutet, dass eine translationale Lösung modernste PK/PD-Techniken für das Modelling und die Simulation einschließlich einer erfolgreichen Integration von Zeit-Konzentrations-Datensätzen mit „-omiks“ und anderen Daten unterstützen muss.
Unterstützung von translationalen Arbeitsabläufen. Translationale Medizin ist viel mehr als nur die Analyse von ansonsten getrennten Datensätzen. Nach der Aufdeckung einer neuen Beziehung oder einer wichtigen Information wird der translationale Mediziner sehr wahrscheinlich weitere Informationen benötigen, um sein Wissen in Fortschritt umsetzen zu können. Solche weiteren Informationen können u.a. die Antworten auf folgende Fragen sein: „Wer sonst in meinem Unternehmen hat an einem ähnlichen Projekt gearbeitet?“; „Sind alle Reagenzien vorrätig, um das Molekül sofort zu synthetisieren?“; „Für wann kann ich die Synthese dieses Wirkstoffes zur weiteren Prüfung ansetzen?“ Lösungen für die translationale Medizin müssen, wenn sie eine verbesserte Produktivität liefern sollen, auch wesentliche Arbeitsabläufe unterstützen.
Ausblick
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das übergeordnete Ziel der translationalen Medizin in einer besseren und möglichst frühen Vorhersagbarkeit der Wirksamkeit und Sicherheitsmerkmale eines Wirkstoffkandidaten liegt. Um dieses Ziel Realität werden zu lassen, müssen die Organisationen in einer gemeinsamen Anstrengung die Entdeckung sowie die präklinischen als auch klinischen experimentellen Methoden und Materialien verbessern und eine elegante Integration und gemeinsame Analyse der Entdeckungsdaten sowie der präklinischen und klinischen Daten ermöglichen.
Für die meisten Unternehmen hat sich die übergreifende Integration von Daten in die die verschiedenen F&E-Forschungsorganisationen als der größte limitierende Faktor erwiesen. Das Ausmaß, um das translationale Ansätze die Schwundquote absenken können, muss noch bestimmt werden. Der Erfolg dieses Ansatzes variiert mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Therapiefeld und der Klasse der therapeutischen Wirkstoffe. Der langfristige Erfolg gründet sich auch auf die Entwicklung besserer experimenteller Methodiken und Techniken zur Erforschung und Messung der In vitro- und In vivo-Merkmale von Wirkstoffkandidaten. Translationale Lösungen müssen ökonomisch zu installieren und zu betreiben sein und sollten sich bereits im Unternehmen bestehende Datenspeicherungssysteme (Cheminformatik, Bioinformatik) zu Nutze mache. Sie sollten eine elegante Integration von Datensätzen verschiedener F&E-Einrichtungen ermöglichen, mit flexiblen und einfach zu bedienenden Abfragemaschinen, die keine besonderen Vorkenntnisse erfordern. Am wichtigsten aber ist, dass eine erfolgreiche Lösung das Modelling und die Simulation der Dosis-Wirkungs-Beziehung unterstützen muss, sodass die Demonstration einer kompetitiven Wirkung im Rahmen der Medikamentenentwicklung so früh und so ökonomisch wie möglich bewerkstelligt werden kann. Ausgestattet mit diesen Fähigkeiten kann die translationale Medizin in der Tat die Brücke über das „Tal des Todes“ sein.
1 Mikael Dolsten, M.D., PhD.
2 Pharsight Kundenumfrage
3 http://www.fda.gov/oc/initiatives/criticalpath/projects2008.pdf
4 Certara, Muttergesellschaft von Tripos, einem IT-Unternehmen, das auf molekulares Modelling und Entdeckung spezialisiert ist, und Pharsight, dem führenden Unternehmen im Bereich PK/PD-Software.
Headerbild: iStock.com | gmutlu
Erstveröffentlichung:
Hovde, M.,
q&more,
1.2011.