q&more
Meine Merkliste
my.chemie.de  
Login  
Vom Nachtschwärmer zur Lerche

Die meisten Menschen kommen aufgrund ihrer Biochronologie entweder als Lerche (Frühaufsteher) oder Eule (Morgenmuffel) zur Welt und in der Pubertät entwickeln sie sich zum Nachtschwärmer. Mit dem 20. Lebensjahr tritt dann eine Wende ein und der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich kontinuierlich Richtung früher, bis wir im Alter an frühmorgendlicher seniler Bettflucht leiden. Verantwortlich für diese Veränderungen der inneren Uhr sind zirkulierende Faktoren im Blut.

Quelle: nach Nicolas Roeggli, Universität Genf

Abb. 1 Die suprachiasmatischen Kerne (SCN) Die wichtigsten Komponenten des zirkadianen Systems des Menschen sind die Netzhaut (Retina), der retino-hypothalamische Trakt, die Zirbeldrüse (Corpus pineale, Ausschüttung von Melatonin) und die suprachiasmatischen Kerne (SCN). Die endogene Uhr wird durch eine Synchronisierung reguliert, die stark vom Lichteinfall auf die Retina abhängig ist.

Die innere Uhr

Biologische Uhren kontrollieren eine Vielzahl tagesrhythmischer Prozesse bei Säugern wie z.B. Schlaf, Körper­temperatur, Blutdruck, Hormonausschüttung und Verdauung. Die zirkadiane Aktivitätsrhythmik wird von einer im Gehirn liegenden zentralen Uhr (zirkadianen Schrittmachern im Nucleus suprachiasmaticus „SCN“) gesteuert (Abb. 1) Bei den SCN handelt es sich um Anhäufungen von ungefähr 10000 Neuronen im Hypo­thalamus über dem Chiasma opticum beidseits des dritten Ventrikels. Die zentrale Uhr selbst wird durch das Licht, das durch die Augen einfällt, synchronisiert. Das Licht beeinflusst dabei die Aktivität der SCN über den spezialisierten retino-hypothalamischen Trakt, der eine direkte neuronale Verbindung von den retinalen Fotorezeptoren zu den SCN herstellt. Dabei kommuniziert es mit anderen Uhren, den so genannten „Sklaven-Uhren“, die in den meisten Zellen unseres Körpers vorkommen (z.B. Herz, Niere, Gastrointestinaltrakt, Haut; Abb. 2).

All diese Zellen exprimieren die für die zirkadiane Rhythmik wichtigen Uhren-Gene („clock genes“: z.B. Period, Clock). Die Uhren-Gene und die von ihnen codierten Proteine wirken in einer komplexen negativen Rückkopplungsschleife zusammen und generieren zelluläre molekulare Rhythmen. Es handelt sich um synchronisierte Biorhythmen der Aktivität verschiedener Gewebe (z.B. motorische Aktivität, Körpertemperatur), die zueinander in Einklang funktionieren – in Analogie zum Orchester, wo „harmonische Musikrhythmen“ durch die verschiedenen Instrumente erzeugt werden (Abb. 2). 

Chronotypen

Ein zirkadianer Rhythmus (allgemein sprachlich auch „innerer“ Rhythmus oder „innere Uhr“ genannt) besitzt eine Periodenlänge von zirka 24 Stunden (Abb. 3). Die Periodenlänge der inneren Uhr hängt von der genetischen Ausstattung ab und es ist möglich, Organismen zu züchten, die aufgrund unterschiedlicher Mutationen in Uhren-Genen eine interne Uhr mit längerer oder kürzerer Periodenlänge haben. In der Bevölkerung können zwei Hauptkategorien von Chronotypen unterschieden werden: Lerche („early chronotype“) oder Eule („late chronotype“) – manche Menschen sind frühmorgens erschreckend munter, andere blühen viel später auf (Abb. 3). Interessanterweise verändert sich der Chronotypus mit dem Alter, was bei Teenagern besonders auffällt. In der Pubertät werden Menschen zu wahren Nachteulen. Etwa im 20. Lebensjahr kommt der Wendepunkt. Die innere Uhr verschiebt sich dann nach und nach auf früher – bis hin zur so genannten „senilen Bettflucht“ (Abb. 4A).

Senile Bettflucht

Warum tritt dieses Phänomen im Alter auf und was sind die Ursachen? Dieser Fragestellung ging unser Team nach. Aufgrund der Tatsache, dass eine zirkadiane Uhr in den meisten unserer Zellen existiert, also auch in peripheren Zellen, wurde eine neue Untersuchungs­methode genutzt,  die Gewinnung und Kultivierung peripherer Zellen einzelner Versuchspersonen, um die molekularen genetischen Eigenschaften der individuellen Uhren bestimmen zu können.

Im Rahmen der Studie wurde 18 jungen (21 – 30 Jahre) und 18 älteren Versuchspersonen (60 – 88 Jahre) eine winzige Hautbiopsie entnommen (extreme Chronotypen wurden in beiden Gruppen von der Studienteilnahme ausgeschlossen). Die gewonnenen humanen Primär­kultursysteme (Hautfibroblasten) wurden mit einem Gen der Feuerfliege so modifiziert, dass sie Licht (Biolumineszenz) emittieren. Da die Expression des Feuerfliegen-Gens von einem Uhren-Gen (Bmal-1) kontrolliert wird, kann somit dessen zirkadiane Aktivität visualisiert werden. Die individuellen rhythmischen Expressionsmuster der Fibroblastenkulturen von jungen und älteren Spendern wurden über 5 Tage erfasst (Abb. 6). Somit war es möglich, individuelle zirkadiane Perioden am Menschen ex vivo/in vitro zu analysieren. Wir fanden heraus, dass im Gegensatz zu den gut dokumentierten alters­abhängigen Änderungen im Schlafverhalten (Abb. 4B) die zirkadiane Periodenlänge in Fibroblasten von jungen und älteren Spendern in vitro nicht verändert war (Abb. 4C). Interessanterweise änderte sich dieses Verhalten jedoch, wenn die gleichen Zellen – egal, ob „jung“ oder „alt“ – mit humanem Serum, das von älteren Personen stammte (Blutentnahme um 14 Uhr) und  nicht mit Standardserum (FSC, fetales Kälberserum) behandelt wurden (Abb. 4D). In Analogie zu den In-vivo-Daten reagierten die Zellen sowohl mit einer Verkürzung ihrer Periodenlänge als auch einer Vorverlegung der Phase („advanced phase“). Diese Veränderungen traten jedoch nicht auf, wenn Serum von jungen Kontrollpersonen verwendet wurde. In weiteren Experimenten wurde das humane Serum der älteren Spender hitzeinaktiviert. Daraufhin konnte die Verkürzung der Periodenlänge wie auch die Vorverlegung der Phase nicht mehr in vitro detektiert werden. Dies legt die Vermutung nahe, dass ein thermo­labiler Faktor bzw. Faktoren, die im Blut älterer Personen zirkulieren, für die beschriebenen Effekte verantwortlich sind. Spekulativ könnten dies hormonelle Veränderungen sein, die die zelluläre Uhr im Alter beeinflussen.

Ausblick

Verschiedene Theorien wurden bisher in der Literatur postuliert, um das Phänomen der senilen Bettflucht erklären zu können: 1. Eine Fragmentierung des Schlaf-Wach-Zyklus, die mit vermehrter Tagesmüdigkeit und Nickerchen (Naps) sowie reduziertem Nachtschlaf einhergeht, führt zu einer Vorverlegung der Aktivitäts­phase. 2. Veränderungen der Physiologie des Auges – z.B eine Linsentrübung, Gelbfärbung, Katarakt bzw. eine verringerte Lichtsensitivität – können zur zirka­dianen Dysfunktion im Alter beitragen. Mit dieser Studie wird ein neuer zusätzlicher zellulärer Mechanismus postuliert: Zirkulierende Faktoren, wahrscheinlich Hormone, beeinflussen non-SCN-Regionen des Gehirns und periphere Oszillatoren, aber nicht die SCN direkt (Abb. 5). Insgesamt liegen überzeugende Beweise für alle drei Modelle vor, die zusammen zu der Modulation des Chronotypus im Alter beitragen können. Letzteres Modell bietet jedoch die Perpektive, dass möglicherweise durch eine pharmakologische Intervention die dramatischen Veränderungen im Schlafverhalten verbessert werden können.


Literatur:
Pagani L, Schmitt K, Meier F, Izakovic J, Roemer K, Viola A, Cajochen C, Wirz-Justice A, Brown SA, Eckert A., Serum factors in older individuals change cellular clock properties, PNAS 2011 108 (17) 7218 – 7223

Erstveröffentlichung: Eckert, A., Brown, S. A., q&more, 2.2011.

Fakten, Hintergründe, Dossiers

  • Chronobiologie
  • circadianer Rhythmus
  • Biochronologie
  • Chronotypen

Mehr über Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

  • Autoren

    Prof. Dr. Anne Eckert

    Anne Eckert studierte Pharmazie an der Philipps Universität Marburg. Anschließend promovierte sie am Zentral­institut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Universität Heidelberg. 1995 – 1996 war sie als Postdoc (Boehringer Ingelheim Fellowship) an der UCI (University of California at Irvine) ... mehr

Mehr über Universität Zürich

  • News

    Schalter für Wirksamkeit von Adenovirus-Impfstoffen gegen Covid-19 entdeckt

    Adenoviren besitzen ein Protein, das ihr Erbmaterial schützt, bis es zum Zellkern der infizierten Zelle gelangt. Dort streift das Virus seine Hülle ab und das schützende Protein löst sich von der Virus-DNA. Erst dann wird diese in den Zellkern importiert – die Voraussetzung für die Bildung ... mehr

    Mikroskopisches «Deep Learning» sagt Virusinfektionen voraus

    Infizieren Viren eine Zelle, führt dies zu Veränderungen des Zellkerns, die mittels Fluoreszenzmikroskopie visualisiert werden können. Forschende der Universität Zürich haben ein künstliches neuronales Netzwerk mit derartigen Bildern so trainiert, dass der Algorithmus zuverlässig diejenigen ... mehr

    Fettstoffwechsel steuert Gehirnentwicklung

    Ein Enzym des Fettstoffwechsels steuert die Aktivität von Hirnstammzellen und die lebenslange Gehirnentwicklung. Funktioniert das Enzym nicht korrekt, schränkt dies die Lern- und Gedächtnisleistung bei Menschen und Mäusen ein, wie Forschende der Universität Zürich ermittelt haben. Die Regul ... mehr

  • Autoren

    Dr. Steven A. Brown

    Steven B. Brown studierte Biochemie am Harvard College, Cambridge, Massachusetts, USA. 1997 promovierte er im Fachgebiet Biological Chemistry and Molecular Pharmacology, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA. Von 1998-2005 war er als Postdoc am Institut für Molekulare Biologie a ... mehr

q&more – die Networking-Plattform für exzellente Qualität in Labor und Prozess

q&more verfolgt den Anspruch, aktuelle Forschung und innovative Lösungen sichtbar zu machen und den Wissensaustausch zu unterstützen. Im Fokus des breiten Themenspektrums stehen höchste Qualitätsansprüche in einem hochinnovativen Branchenumfeld. Als moderne Wissensplattform bietet q&more den Akteuren im Markt einzigartige Networking-Möglichkeiten. International renommierte Autoren repräsentieren den aktuellen Wissenstand. Die Originalbeiträge werden attraktiv in einem anspruchsvollen Umfeld präsentiert und deutsch und englisch publiziert. Die Inhalte zeigen neue Konzepte und unkonventionelle Lösungsansätze auf.

> mehr zu q&more

q&more wird unterstützt von:

 

Ihr Bowser ist nicht aktuell. Microsoft Internet Explorer 6.0 unterstützt einige Funktionen auf Chemie.DE nicht.