In dem 1871 erschienenen Kinderbuch „Through the Looking-Glass – And What Alice Found There” des englischen Autors Lewis Carroll betritt Alice eine Welt hinter dem Spiegel. Sie erklärt ihrer Katze: „Zuerst einmal kommt das Zimmer, das du hinter dem Glas siehst – das ist genau wie unser Wohnzimmer, nur ist alles verkehrt herum. … Wie würde es dir gefallen, im Spiegelhaus zu wohnen, Miezchen? Ich frage mich, ob sie dir dort Milch geben würden? Aber vielleicht kann man Spiegelmilch nicht gut trinken!“ Auch wenn Carroll die Wirkung spiegelbildlicher Verbindungen nicht kannte, so liegt dennoch die Vermutung nahe, dass Spiegelmilch tatsächlich vom molekularen Aufbau her betrachtet anders sein würde.
Warum Enantiomerenanalytik?
Abb. 1 Orangen enthalten (R)-Limonen, Zitronen das spiegelbildliche (S)-Limonen.
Es gibt Moleküle, die sich wie die linke und rechte Hand eines Menschen gleichen, d.h., sie unterscheiden sich bei derselben elementaren Zusammensetzung und Bindung der Atome in der räumlichen Anordnung der Substituenten wie Bild und Spiegelbild. Derartige Moleküle werden als Enantiomere bezeichnet, sie sind chiral (cheir = griechisch Hand; χερι). Moleküle mit der gleichen Verknüpfung der Atome, aber unterschiedlicher räumlicher Anordnung, die in keiner Bild-Spiegelbildbeziehung zueinanderstehen, nennt man Diasteromere. Diese können chiral sein oder auch nicht. Chirale Moleküle besitzen verschiedene Wirkungen, sie können anders schmecken oder riechen bzw. unterschiedliche pharmakologische Aktivität aufweisen. So riecht das (R)-Limonen nach Orange, während das spiegelbildliche (S)-Limonen nach Zitrone riecht (Abb. 1). Ein anderes Beispiel ist der Geruch von (S)-Carvon nach Kümmel bzw. der Geruch des Enantiomers (R)-Carvon nach grüner Minze. In einer spiegelbildlichen Welt wäre also vieles anders, beispielsweise könnten wir Dinge nicht mehr an ihrem Geruch erkennen oder Zucker würde seine Süßkraft verlieren.
Abb. 2 Dreipunkt-Interaktionsmodell. Das linke Enantiomer kann idealerweise 3 Interaktionen zu dem chiralen Selektor ausbilden, das rechte Enantiomer nur 2.
Im Hinblick auf Arzneistoffe, die nach der Definition des deutschen Arzneimittelgesetzes „zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind“, können die Auswirkungen wesentlich dramatischer sein. Die beiden Enantiomere eines Arzneistoffs können sich in ihrer Wirkstärke unterscheiden oder auch entgegengesetzte (u.U. toxische) Wirkungen haben. Ein Beispiel unterschiedlicher Wirkstärke von Enantiomeren findet man beim β-Blocker Propranolol, dessen (S)-Enantiomer eine 100-fach stärkere antagonistische Aktivität am b-Rezeptor aufweist als das (R)-Enantiomer. Im Gegensatz dazu wird das (S)-Penicillamin zur Behandlung der Wilsonschen Krankheit oder als Rheumatherapeutikum eingesetzt, das (R)-Enantiomer ist hingegen hoch toxisch. Dies ist nicht verwunderlich, da alle spezifischen Wechselwirkungspartner biologisch aktiver Substanzen (d.h. Rezeptoren, Enzyme, Nukleinsäure, etc.) aus enantiomrenreinen Bausteinen (Aminosäuren, Zucker, etc.) aufgebaut und somit ebenfalls chiral sind.
Die chemische Synthese führt aber häufig zu 1:1-Gemischen der Enantiomere, so genannten Racematen. Vor dem Hintergrund möglicher unterschiedlicher Wirkungen verlangen heute Zulassungsbehörden wie die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) und die European Medicines Agency (EMA) die Untersuchung der einzelnen Stereoisomere eines Wirkstoffs und dann gegebenenfalls die Entwicklung des wirksamen Enantiomers. Dies erfordert nicht nur geeignete Syntheseverfahren, sondern auch Analyseverfahren, die zwischen Enantiomeren diskriminieren. Stereoselektive Analytik ist aber nicht nur für die pharmazeutische Industrie wichtig, sondern betrifft auch viele weitere Bereiche der Analytik von Chemikalien, Kosmetika, Lebensmitteln, biologischem Material oder Umweltproben.
Verfahren zur Trennung von Enantiomeren
Das „klassische“ Analyseverfahren für Enantiomere ist die Polarimetrie, bei der die Drehung der Polarisationsebene linear polarisierten Lichts beim Durchtritt durch die Lösung der Substanz bestimmt wird. Das Verfahren zeichnet sich aber durch eine geringe Präzision, Störanfälligkeit und hohen Substanzverbrauch aus.
Abb. 3 Formel von β-Cyclodextrin (A) und Molecular Modeling-Ansicht des Komplexes zwischen β-Cyclodextrin und dem Dipeptid L-Alanyl-L-tyrosin (B).
Moderne Verfahren zur Enantiomerenanalytik sind die Chromatografie und die Kapillarelektrophorese. Hierbei erfolgt die Wechselwirkung zwischen den Analyten und einem chiralen Selektor, der ebenfalls eine chirale Verbindung ist. Zur Illustration der Vorgänge wird häufig das Dreipunkt-Interaktionsmodell (Abb. 2) herangezogen, das bei aller Unzulänglichkeit eine anschauliche Erklärung liefert. Nur eines der Enantiomere kann 3 Interaktionen zum Selektor ausbilden, für das andere Enantiomer sind aufgrund der räumlichen Anordnung nur 2 Interaktionen möglich. Es ist leicht ersichtlich, dass sich die Komplexe in ihrer Stabilität unterscheiden, sodass letztendlich eine Trennung der Enantiomere erfolgt.
In der Chromatografie ist der chirale Selektor an eine stationäre Phase gebunden, in der Kapillarelektrophorese wird er dem Hintergrundelektrolyten zugegeben, man spricht hier von einer pseudostationären Phase, da der Selektor beweglich ist. Das Prinzip der chiralen Erkennung von Enantiomeren in Chromatografie und Kapillarelektrophorese ist also dasselbe, auch wenn der Transport der Substanzen zum Detektor mittels Druck in der Chromatografie bzw. aufgrund elektrokinetischer Phänomene in der Kapillarelektrophorese unterschiedlich verläuft.
Abb. 4 Analyse mittels Kapillarelektrophorese einer Probe des (R)-Enantiomers von Chloroquin, die 0.2 % des (S)-Enantiomers enthält. Experimentelle Bedingungen: Quarzglaskapillare: effektive Länge 40 cm, 50 µm innerer Durchmesser; Hintergrundelektrolyt: 100 mM Natriumphosphatpuffer, pH 2,5 mit 30 mg/mL Sulfobutylether-β-cyclodextrin; Spannung 25 kV; Temperatur 20 °C; Detektionswellenlänge: 225 nm.
Wichtige, in der Kapillarelektrophorese eingesetzte chirale Selektoren sind Cyclodextrine, makrozyklische Antibiotika wie Vancomycin oder Teicoplanin, chirale Kronenether, Metallkomplexe, Proteine oder auch chirale Mizellbildner. Aufgrund ihrer Verfügbarkeit sind Cyclodextrine die am häufigsten eingesetzten chiralen Selektoren. Dabei handelt es sich um durch mikrobiologischen Abbau von Stärke gewonnene zyklische Oligosaccharide. In den oft verwendeten α-, β- und γ-Cyclodextrinen sind 5, 6 bzw. 7 D-Glucopyranose-Einheiten α-(1,4)-glycosidisch verknüpft (siehe β-Cyclodextrin in Abb. 3). Dadurch bildet sich ein konischer Hohlkörper mit einem lipophilen Innenraum und einem hydrophilen Äußeren. Die Komplexierung von Analyten erfolgt aufgrund hydrophober Wechselwirkungen für Substanzen, die in den Hohlraum eingelagert werden oder auch durch Wechselwirkung mit den OH-Gruppen. Durch Derivatisierung der primären und sekundären Hydroxygruppen können zahlreiche substituierte Cyclodextrine mit veränderten Komplexierungsverhalten hergestellt werden, die für zahlreiche Trennmodi einsetzbar sind.
Chirale Kapillarelektrophorese in der pharmazeutischen Analyse
Neben Anwendungen in der chemischen Industrie, in Lebensmitteln oder Umweltproben spielen Enantiomerentrennungen in der pharmazeutischen Analyse eine besonders wichtige Rolle. Ein Grund ist die erwähnte unterschiedliche Wirkung der Enantiomere chiraler Arzneistoffe. Nach internationalen Richtlinien sollte das „falsche“ Enantiomer im tausendfachen Unterschuss in Gegenwart des „richtigen“ Enantiomers bestimmbar sein, d.h., einen maximalen Gehalt von 0,1 % aufweisen. Dies wurde für viele Arzneistoffe gezeigt (siehe Beispiel des Antimalariamittels Chloroquin in Abb. 4).
Eine weitere wichtige Arbeitsrichtung ist die Untersuchung des enantioselektiven Metabolisums von Arzneistoffen durch den menschlichen Organismus. Da die verstoffwechselnden Enzyme ebenfalls chiral sind, entsteht häufig aus einem Enantiomer bevorzugt ein bestimmter Metabolit, während das andere Enantiomer zu einem anderen Metaboliten umgesetzt werden kann. Außerdem unterscheiden sich Menschen in der Aktivität der abbauenden Enzyme, sodass Arzneistoffwirkung und -nebenwirkung auch eine Konsequenz eines stereoselektiven Metabolismus sein können. Als ein Verfahren, das nur kleine Probenvolumina benötigt, leistet die Kapillarelektrophorese auch hier wichtige Beiträge.
Ausblick
Etwas 30 Jahre nach ihrer Einführung hat sich die Kapillarelektrophorese zu einem ausgereiften, flexiblen Analyseverfahren entwickelt, das sich in idealer Weise zur Enantiomerenanalytik eignet und in vielen Bereichen etabliert ist. Für das miniaturisierte Verfahren werden nur geringe Mengen an Probe und Chemikalien benötigt, organische Lösungsmittel werden kaum verwendet. Die Kapillarelektrophorese ist daher ein kostensparendes und umweltfreundliches Analyseverfahren. Künftige Entwicklungen liegen in einer weiteren Miniaturisierung des Verfahrens unter Verwendung von Chips, welche die Integrierung unterschiedlicher Analyseschritte erlauben (Stichwort „lab-on-a-chip“).
Literatur:
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Erstveröffentlichung:
Scriba, G. K. E.,
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2.2011.