In fast jedem der 17 Ziele der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung spielen Lebensmittel und deren Wertschöpfungskette eine wichtige Rolle [1]. Mit der Agenda haben die Vereinten Nationen einen globalen Handlungsrahmen geschaffen, der sich an alle gesellschaftlichen Akteure richtet. So sind für eine nachhaltige Produktion, gesunde Ernährung und weltweite Verfügbarkeit ausgewogener Grundnahrungsmittel sowohl Hersteller als auch jede und jeder einzelne hinsichtlich des Konsumverhalten in der Verantwortung. Es ist die Aufgabe aller, insbesondere der Forschung und Entwicklung in Industrie und an Forschungseinrichtungen, unermüdlich neue Lösungen zu finden, um diese Ziele zu erreichen.
In diesem Kontext können auch die Kleberproteine des Weizens, die als pflanzliche Proteine eine bessere Wasser- bzw. Nährstoffbilanz im Vergleich zu Proteinen tierischen Ursprungs aufweisen, eine große Bedeutung einnehmen. Weizengluten fällt als Kuppelprodukt der Stärke herstellenden Industrie an und wird in trockener und vermahlener Form als Vitalkleber vielseitig eingesetzt (siehe Abb. 1 rechts). Ein zunehmender Fokus richtet sich auf seine funktionellen Eigenschaften und sein spezifisches Verwendungspotenzial.
Weizengluten – Ein Getreideprotein mit besonderen Eigenschaften
Abb.1 Vitalkleber in hydratisierter (links) und trockener Form (rechts). Gut lagerbar und dosierbar wird Vitalkleber als Pulver vertrieben. Er findet Einsatz als Zusatzstoff in der Backbranche sowie in Saucen und sogar Kosmetika. Bei Fleischersatzprodukten kann er sowohl als Hauptzutat (Seitan) oder ebenfalls als Zusatzstoff verwendet werden.
In der Wissenschaft und Industrie stoßen Kleberproteine aus Weizen auf besonderes Interesse, denn von anderen pflanzlichen Speicherproteinen unterscheiden sie sich in der Fähigkeit, durch Hydratisierung ein viskoelastisches Netzwerk auszubilden. Dies ermöglicht die Herstellung einer Vielzahl von Produkten. Am weitesten verbreitet ist die Verwendung von Vitalkleber in der Backbranche. Er wird zur Standardisierung des Proteingehalts im Mehl und in rehydratisierter Form eingebettet im Teig zur Verbesserung der Verarbeitbarkeit von Teigen verwendet. Als kohäsives, viskoelastisches Netzwerk sorgt Gluten für die charakteristischen Eigenschaften von Brot und Backwaren und ermöglicht ein hohes Gashaltevermögen, eine produktspezifisch definierte lockere Porung und eine luftig weiche Textur feiner Backwaren. Zugegebener Vitalkleber bewirkt in Backwaren eine erhöhte Wasseraufnahmefähigkeit, wodurch die Frischhaltung der Produkte verbessert wird. Zudem findet Vitalkleber Verwendung als Zusatz in Saucen, Fleischersatzprodukten wie bspw. bei Seitan in Form des puren rehydratisierten Weizenglutens (siehe Abb. 1 links) und teilweise auch in Kosmetika [2,3].
Einteilung von Weizenproteinen
Abb. 2 Die Aufnahme der Proteinstruktur im Weizenteig mittels konfokaler Laser-Scanning-Mikroskopie angefärbt mit Rhodamin B zeigt die feine Vernetzung von Gluten.
Häufig wird Weizengluten dem Begriff „Weizenprotein“ gleichgestellt. Tatsächlich werden die Weizenproteine nach dem von Osborne entwickelten Extraktionsschema nach ihrer Löslichkeit in Wasser (Leukosin), Kochsalzlösung (Edestin), Ethanollösung (Gliadin) sowie einer nichtlöslichen Fraktion (Glutenin) in vier Fraktionen unterteilt. Letztere beiden Fraktionen machen den Hauptteil des Weizenproteins aus und werden häufig als Gluten zusammengefasst. Die globulären Gliadine sind hierbei verantwortlich für die viskosen Eigenschaften und können ausgehend von ihrer Primärstruktur in die Unterfraktionen α/β-, γ-, ω1,2- und ω5-Gliadine aufgeteilt werden [4,5]. Glutenin definiert den elastischen Anteil des Glutennetzwerks und kann in eine hochmolekulare und eine niedermolekulare Gewichtsgruppe eingeteilt werden. Durch die intra- und intermolekular starke Vernetzung gibt es für Glutenin keine eindeutige Strukturformel, sondern repetitive Sequenzen, die beliebig kombiniert und wiederholt werden. Neben kovalenten Bindungen und Wasserstoffbrückenbindungen sind es hauptsächlich Disulfidbrückenbindungen, die den Zusammenhalt im Glutennetzwerk (Abb. 2) erreichen.
Untersuchung von Einflussfaktoren und Materialeigenschaften
Abb. 3 Weizenkörner während der Vermahlung mit einer Ultrazentrifugalmühle: Viele Prozessschritte können die Eigenschaften des Materials verändern, zum Beispiel über einen hohen mechanischen Stress oder ein Temperaturanstieg.
Als Naturprodukt zeigen Vitalkleber verschiedener Hersteller auch Unterschiede in ihrer Funktionalität auf [6]. Bei der hier vorgestellten Forschung zu Vitalkleber geht es jedoch nicht nur um dessen Charakterisierung, sondern um die Verknüpfung von Struktur und Funktionalität. Prozessbedingungen während der Herstellung und Weiterverarbeitung, wie Temperatur, mechanischer Stress oder der Zusatz anderer Stoffe, können die Proteinstruktur und damit auch dessen Netzwerkeigenschaften gezielt oder ungewollt beeinflussen (Abb. 3). Das Wissen über diese Einflussfaktoren soll genutzt werden, um die Verarbeitung gezielt zu steuern und sogar neue Einsatzgebiete für Vitalkleber zu erschließen. In trockenem Zustand ist Vitalkleber sehr temperaturstabil. Mittels Fourier-Transform-Infrarotspektroskopie (FTIR) können intakte Sekundärstrukturen der Proteine selbst bei 170 °C noch gemessen werden (Abb. 4) [7].
Abb. 4 Fourier-Transform-Infrarot-Spektroskopie (FTIR)-Abbildung abgeleitet aus der Veröffentlichung Wehrli et al. (2020) [7]. Das FTIR-Spektrum von Vitalkleber, der auf 170 °C erhitzt wurde, gleicht in vielen charakteristischen Merkmalen für die Sekundärstruktur des Proteins dem nicht erhitztem Vitalkleber bei Raumtemperatur (RT). Eine auf 250 °C erhitzte Probe hingegen zeigt im Spektrum keine Übereinstimmungen mit dem für Vitalkleber typischen Spektrum mehr.
Röntgenphotoelektronenspektroskopie (XPS) zeigt, dass sich bei 170 °C weniger Stickstoff an der Oberfläche des Glutens befindet. Da der Stickstoff in thermogravimetrischen Analysen mit Massenspektrometrie (TGA-MS) nicht ausgegast ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich der Stickstoff noch im Material befindet und sich die Proteinstrukturen daher nur umfalten. In hydratisiertem Zustand denaturiert Gluten hingegen bei deutlich geringeren Temperaturen. Der erste Temperaturbereich (56–64 °C) ist abhängig vom Verhältnis von Glutenin zu Gliadin. Da Gliadin temperaturstabiler ist, zeigen Proben mit höherem Gliadingehalt in rheologischen Untersuchungen Denaturierungseffekte erst bei höheren Temperaturen. Im zweiten Temperaturbereich (79–81 °C) findet eine Restdenaturierung der Gliadine statt [7]. Der Einblick in die Dynamik der Proteindenaturierung und die Netzwerkeigenschaften in Abhängigkeit der Proteinfaltung machen das Material berechenbarer. Je nach Wassergehalt ist eine sehr unterschiedliche Beschaffenheit erreichbar, womit Gluten vielseitig einsetzbar wird.
Vitalkleber als Zusatzstoff für Fleischersatzprodukte
Eine gezielte Steuerung der Vitalkleberfunktionalität wäre nicht nur für die Reproduzierbarkeit und Standardisierung von Backwaren von großem Vorteil. Vitalkleber wird auch als Fleischersatzprodukt in Form von Seitan eingesetzt [2]. Die größte Herausforderung bei der Herstellung von Fleischersatzprodukten ist dabei die Abstimmung von Textur, Geschmack und Farbe, welche von der richtigen Kombination der Zutaten und den Prozessbedingungen gesteuert wird. Während der Herstellung spielt die Scherung eine zentrale Rolle. Dadurch werden faserige Strukturen erreicht, welche durch eine anschließende Erhitzung, Kühlung und Koagulation verfestigt werden. Die häufigsten Methoden sind dabei die Extrusion, Scherzellentechnologie und der Spinnprozess, in dem Proteine zu langen Fäden angeordnet werden [8]. Vitalkleber spielt dabei eine wichtige Rolle: Neben Seitan als weizenbasiertem Fleischersatzprodukt wird Gluten auch als Zusatzstoff für Produkte aus pflanzlichen Proteinen wie Sojaprotein-, oder Erbsenproteinisolaten verwendet [9]. Vitalkleber formt dünne Proteinfilme, die durch die Proteinelastizität stabil bleiben. Die dank Vitalkleber hohe Wasserhaltekapazität hilft bei der Nachahmung von saftigem Fleisch. Intra- und intermolekulare Disulfidbindungen im Gluten und mit anderen Pflanzenproteinen führen zu einem stabilen Netzwerk und einer kontrollierten Faserung. Insgesamt werden so die physikalischen Eigenschaften verbessert und das Produkt der charakteristischen Faserung und Texturstabilität von Fleisch angenähert [10].
Potenziale im Non-Food-Bereich
Neben Fleischersatzprodukten hat sich das Einsatzgebiet dieses Proteins mit der Diskussion um nachhaltige Produkte in den Non-Food-Bereich erweitert. So wird Vitalkleber inzwischen auch auf sein Potenzial als bioabbaubares Material untersucht [2,11,12]. Als elastisch formbarer und wasserabweisender Biofilm ist Vitalkleber ein vielversprechendes Protein zum Beispiel für Verpackungen. Regionalität und kosteneffiziente Herstellung eines ohnehin bei der Stärkeproduktion anfallendes Produktes sind weitere Pluspunkte. Gerade die Elastizität und Hydrophobizität dieses Proteins stellen uns vor analytische und technologische Herausforderungen, weshalb noch lange nicht alles über Vitalkleber erforscht werden konnte. In diesen Herausforderungen liegen aber auch genau die spannenden Fragen der Zukunft dieses Proteins.
Danksagung
Die Arbeiten zu Struktur-Funktionalitäts-Beziehungen bei Vitalkleber wurden im Forschungsvorhaben AiF 19710 durchgeführt, das im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) via AiF (Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e.V.) über den Forschungskreis der Ernährungsindustrie e.V. (FEI) gefördert wurde.
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Kategorie: Getreidetechnologie | Vitalkleber
Literatur:
[1] United Nations. Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. 2015. Available from: https://sdgs.un.org/publications/transforming-our-world-2030-agenda-sustainable-development-17981 (Accessed 2021, Dec 14)
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[7] Wehrli MC, Kratky T, Schopf M. Scherf KA, Becker T, Jekle M. Thermally induced gluten modification observed with rheology and spectroscopies. Int J Biol Macromol. 2021;173:26-33. DOI: 10.1016/j.ijbiomac.2021.01.008
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Publikationsdatum:
16.03.2022