Mehr als 12.500 Pflanzen produzieren Latex, einen farblosen bis weißen Milchsaft, der unter anderem Naturkautschuk enthält. Diesen industriell unverzichtbaren Rohstoff findet man jedoch nur in drei Pflanzen in einer Qualität, die für die Herstellung von Hochleistungsgummiprodukten wie Reifen unerlässlich ist. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach Naturkautschuk sind alternative Rohstoffquellen dringend erforderlich.
Der Bedarf an Naturkautschuk ist heute höher denn je. Rund 13 Mio. Tonnen werden jedes Jahr zu Produkten aller Art verarbeitet [1]. 70 Prozent davon gehen in die Reifenindustrie. Nicht von ungefähr wurde er durch die EU erst kürzlich zu einem der wichtigsten strategischen Rohstoffe der industriellen Welt erklärt [2]. Gewonnen wird Naturkautschuk auch heute noch fast ausschließlich aus dem in Brasilien beheimateten Kautschukbaum Hevea brasiliensis. Verlagert haben sich jedoch im Laufe der Zeit die Anbaugebiete. Hielt im 19. Jahrhundert Brasilien noch das Monopol, so sind es heute vor allem Thailand, Indonesien und Vietnam, die mit rund 73 Prozent den Hauptanteil des weltweit verarbeiteten Naturkautschuks auf großen Plantagen produzieren. Die Gewinnung von Naturkautschuk konnte zwar bisher kontinuierlich gesteigert werden, sie ist jedoch gesundheitlich und ökologisch hoch bedenklich. Unter teils unzumutbaren Bedingungen arbeiten vor allem in Thailand und Indonesien Kleinbauern auf großen Plantagen, für die wertvoller Tropenwald abgeholzt wird. Angebaut wird der Kautschukbaum vorzugsweise in Monokulturen unter hohem Einsatz von Pestiziden, deren Eintrag die Natur zusätzlich belastet. Auch die für die Verfestigung des Saftes verwendeten Säuren gefährden die Umwelt vor Ort. Mit zunehmender Industrialisierung von Ländern wie China und Indien steigt das Bedürfnis nach individueller Mobilität, und somit auch der Bedarf an Reifen. Den Prognosen von Experten zufolge wird es spätestens in den 2030er Jahren zu einem wirtschaftlichen Engpass in der Verfügbarkeit von Naturkautschuk kommen. Die Erschließung alternativer, wirtschaftlich attraktiver sowie ökologisch und sozial unbedenklicher Quellen für Naturkautschuk ist aus all diesen Gründen unerlässlich. Nur so können wir die für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft essenzielle individuelle Mobilität langfristig aufrechterhalten.
Russischer Löwenzahn: Auf dem Weg zur industriellen Nutzung
Der wirtschaftliche Kampf um Naturkautschuk ist so alt wie der Reifen selbst. Zu Ende des 19. Jahrhundert befanden sich die Plantagen für den wichtigsten natürlichen Kautschuklieferanten vor allem in Brasilien, kleinere in Afrika. Schon damals war man sich der wirtschaftlichen Bedeutung des Rohstoffes bewusst: Auf den Export der Samen des Kautschukbaumes (Hevea brasiliensis) stand in Brasilien die Todesstrafe. Trotzdem gelang es eines Tages dem Engländer Sir Henry Wickham, rund 90.000 Samen aus dem Land zu schmuggeln. Die Folge: Billig-Plantagen in Asien – der Beginn vom Ende des brasilianischen Monopols.
Die Weltkriege bedingten, dass der Zugang zu den so wichtigen Kautschukplantagen zeitweise versperrt war. So begann im 20. Jahrhundert die weltweite Jagd nach neuen Kautschukquellen im eigenen Land. Schweden, die USA, China, Russland, Deutschland – viele Nationen experimentierten mit unterschiedlichsten Milchsaftpflanzen. Ein Erfolg war die Entdeckung des Russischen Löwenzahns (Taraxacum koksaghyz). Mit dieser Pflanze wurde die Forschung intensiviert – so auch in Deutschland. Es gelang jedoch niemals, ausreichende Mengen an Naturkautschuk für den industriellen Einsatz zu gewinnen. Und so geriet der Russische Löwenzahn als Kautschukquelle bald wieder in Vergessenheit.
© WWU – Vincent BenninghausAbb. 1 Schematische Darstellung der Kautschukbiosynthese. Die Produktion von Naturkautschuk findet an Kautschukpartikeln in Milchkanalzellen (Laticiferen) der Wurzel statt.
Heute, rund 80 Jahre nach den ersten Versuchen in aller Welt ist es uns erstmals gelungen, den für den Reifenbau unverzichtbaren Naturkautschuk im industriellen Maßstab auf heimischen Böden mit Russischen Löwenzahn zu erzeugen. Wir können ihn maschinell gewinnen und daraus Reifen bauen, die nachhaltiger, besser und sicherer sind als alles, was bisher auf dem Markt ist. Möglich wurde das durch ein Zusammenspiel mehrerer Disziplinen: Die wissensbasierte Pflanzenzüchtung hat zunächst den Ertrag der Pflanzen erhöht. Bei früheren Versuchen der Kautschukgewinnung aus Russischem Löwenzahn wurde ausschließlich die Wildpflanze verwendet. Die Erfolge waren mäßig: Schlechte Rohstoffausbeute (max. 2 % der Wurzeltrockenmasse) und schlechte Anbaueigenschaften. Unser Weg war ein anderer: In Vorversuchen haben wir durch Verwandtschaftsanalysen festgestellt, dass die auf dem Markt verfügbaren Pflanzen nicht reinrassig waren. Als uns nach langem Suchen ein reinrassiges Exemplar des Russischen Löwenzahns vorlag, haben wir zunächst die gesamte Kautschukbiosynthese (siehe Abb. 1) durch funktionelle Genomanalyse analysiert. Dabei haben wir zuvor unbekannte Schlüsselenzyme dieses Stoffwechselweges identifiziert. Das Ergebnis: Einer rezeptorähnlichen Komponente kommt hier eine übergeordnete Rolle zu [3-10].
Anschließend wurden Pflanzen gezielt auf die Vorlage dieser Gene und deren Aktivität hin gezüchtet. Diese Indikatoren können als Marker genutzt werden. So konnten wir den Ertrag an Naturkautschuk innerhalb von nur wenigen Jahren erheblich steigern – im Mittel auf 15 Prozent der Wurzeltrockenmasse. Bei diesem Gehalt können wir ca. 1 Tonne Naturkautschuk pro Hektar Anbaufläche erzielen – das ist genauso viel, wie man beim Kautschukbaum erntet. Ein zentraler Bestandteil war auch die Entwicklung eines wirtschaftlichen Anbau- und Ernteverfahrens. Zunächst haben wir in Zusammenarbeit mit Agrarspezialisten die optimalen Parameter für die Aussaat und Kultivierung definiert: Bodenqualität, Aussaatstärke und -zeitpunkt, Unkrautmanagement, die richtige Düngung und der Umgang mit Krankheitserregern. So konnte beispielsweise die Keimfähigkeit des Saatguts durch Selektion und Veredelung auf über 80 Prozent gesteigert werden. Auch eine Strategie zur Unkrautkontrolle wurde entwickelt sowie ein neues Modul für bestehende Erntemaschinen, das nun erstmals die maschinelle Wurzelernte wirtschaftlich ermöglicht.
Gewinnung und Anwendung von Naturkautschuk aus Löwenzahn
© WWU – Kathrin NolteAbb. 2 Aus dem gewonnenen Naturkautschuk des Russischen Löwenzahns wird seit 2019 serienmäßig der Fahrradreifen „Urban Taraxagum“ von Continental produziert.
Im Gegensatz zur bisher gängigen Praxis in der Gewinnung von Naturkautschuk aus dem Kautschukbaum über die Koagulation des Milchsafts (Latex), kann der Rohstoffgewinn aus dem Russischen Löwenzahn nur in seiner festen Form erfolgen. Dazu werden die Wurzeln mit einer speziellen Kugelmühle, wie man sie aus der Zementindustrie kennt, in einem wässrigen Prozess fein zermahlen. Die Kautschukpartikel schwimmen anschließend auf der Wasseroberfläche und lassen sich leicht abschöpfen. In der anschließenden Analyse zeigte der Rohstoff dann exzellente physikochemische Eigenschaften: Ein hohes Molekulargewicht und eine hohe Elastizität – beides Eigenschaften, die für die Fertigung von Gummiprodukten ein entscheidendes Qualitätsmerkmal sind.
Reifen aus Löwenzahnkautschuk zeigten in anschließenden Performancetests ein vergleichbares Eigenschaftsprofil im Vergleich zum herkömmlichen Naturkautschuk. In 2018 wurde aufgrund der positiven Entwicklungen das erste industrielle Forschungslabor für Naturkautschuk aus dem Russischen Löwenzahn in Anklam von der Continental Reifen GmbH Deutschland eröffnet. Ein Jahr später wurde der Urban Taraxagum®-Fahrradreifen, das erste Produkt aus Löwenzahnkautschuk, in den Markt eingeführt (Abb. 2).
Danksagung
Die Arbeiten zur Entwicklung des Russischen Löwenzahns zur industriell nutzbaren Kautschukpflanze wurden und werden über das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) finanziell unterstützt.
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Kategorie: Bioökonomie | Pflanzenbiotechnologie
Literatur:
[1] https://de.statista.com/themen/4832/kautschuk/#dossierKeyfigures (download 22.11.2021)
[2] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Brüssel 03.09.2020, COM(2020) 474 final
[[3] Benninghaus V, van Deenen N, Müller B, Roelfs K-U, Lassowskat I et al. Comparative proteome and metabolome analyses of latex-exuding and non-exuding Taraxacum koksaghyz roots provide insights into laticifer biology. J Exp Bot. 2020 Feb 7; 71(4):1278–1293., Published online 2019 Nov 19. DOI: 10.1093/jxb/erz512
[4] Niephaus E, Müller B, van Deenen N, Lassowskat I, Bonin M et al. Uncovering mechanisms of rubber biosynthesis in Taraxacum koksaghyz – role of cis‐prenyltransferase‐like 1 protein. Plant J. 2019 Jul 25;100(3): 591-609. DOI: 10.1111/tpj.14471
[5] Pütter KM, van Deenen N, Unland K, Prüfer D, Schulze Gronover C. Isoprenoid biosynthesis in dandelion latex is enhanced by the overexpression of three key enzymes involved in the mevalonate pathway. BMC Plant Biol. 2017 May 22;17(1):88. DOI: 10.1186/s12870-017-1036-0
[6] Stolze A, Wanke A, van Deenen N, Geyer R, Prüfer D and Schulze Gronover C. Development of rubber-enriched dandelion varieties by metabolic engineering of the inulin pathway. Plant Biotechnol J. 2017 Jun;15(6):740-753. DOI: 10.1111/pbi.12672
[7] Epping J, van Deenen N, Niephaus E, Stolze A, Fricke J et al. A rubber transferase activator is necessary for natural rubber biosynthesis in dandelion. Nature Plants. 2015 Apr 27;1:15048. DOI: 10.1038/nplants.2015.48
[8] Laibach N, Hillebrand A, Twyman RM, Prüfer D, Schulze Gronover C. Identification of a Taraxacum brevicorniculatum rubber elongation factor protein that is localized on rubber particles and promotes rubber biosynthesis. Plant J. 2015 Mar 24;82(4):609-620. DOI: 10.1111/tpj.12836
[9] Wahler D, Colby T, Kowalski NA, Harzen A, Wotzka SY et al. Proteomic analysis of latex from the rubber-producing plant Taraxacum brevicorniculatum. Proteomics. 2012;12(6):901–905. DOI: 10.1002/pmic.201000778
[10] Post JJ, van Deenen N, Fricke J, Kowalski N, Wurbs D et al. Laticifer specific cis-prenyltransferase silencing affects the rubber, triterpene and inulin content of Taraxacum brevicorniculatum. Plant Physiol. 2012 Jan 11;158(3):1406-1417. DOI: 10.1104/pp.111.187880
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Publikationsdatum:
14.12.2021