Über 200.000 Tierarten produzieren Gifte, um sich gegen Feinde zu verteidigen oder ihre Beutetiere zu töten. Bei diesen Giften handelt es sich meist um komplexe Gemische verschiedener Toxine, die im Verlauf der Evolution im Hinblick auf ihre Funktion optimiert wurden. Aus diesem Grund sind Tiergifte eine wertvolle Bioressource für neue Wirkstoffe, nach denen mit modernen Omics-Methoden gefahndet wird.
Tiergifte als Bioressource
Von den über 1,2 Millionen bekannten Tierarten gelten ca. 200.000 als giftig. Das heißt, sie produzieren Gifte, um sich gegen Feinde zu verteidigen oder ihre Beute zu töten. Diese Gifte können hunderte verschiedene Wirkstoffen enthalten, die in reiner Form als Toxine bezeichnet und in der Regel von Giftdrüsen produziert werden. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass in den Giftdrüsen von allen giftigen Tierarten zusammengenommen bis 20 Millionen verschiedene Moleküle produziert werden, von denen bis heute allerdings nur ca. 16.000 genauer untersucht wurden. Aus den Wirkstoffen von Gifttieren resultieren gegenwärtig 18 Medikamente, die auf den Markt gekommen sind, weitere befinden sich in klinischen Studien. Damit repräsentieren Tiergifte eine unzureichend erschlossene Bioressource für die Wertschöpfung über die Entwicklung von neuen Medikamenten.
© A. VilcinskasAbb. 1 Schwarze Mamba, Dendroaspis polylepis
Jeder hat irgendwann im Fernsehen gesehen, wie in Farmen gehaltene Giftschlangen regelmäßig „gemolken“ werden. Dabei wird das über die Giftzähne abgegebene Gift gesammelt, um es analysieren zu können (Abb. 1). Die Gewinnung von Reinsubstanzen, die aus solchen komplexen Giftcocktails isoliert werden müssen, ist jedoch sehr aufwendig. Während aus Giftschlagen noch relativ große Mengen an Giften gewonnen werden können, ist dies bei der weit überwiegenden Mehrheit der Gifttiere schwieriger, da diese in der Regel klein und deren Giftdrüsen entsprechend winzig sind. Aus diesem Grund ist das Sammeln von Giften, die z.B. von Spinnen (Abb. 2) oder Skorpionen produziert werden, ineffizient, wenn es darum geht, die darin enthaltenen Toxine zu identifizieren und in reiner Form zu gewinnen, denn deren Gifte bestehen aus einem komplexen Gemisch aus Peptiden und Proteinen. Deshalb ist es zielführend, das Genom bzw. das Transkriptom von Giftdrüsen zu sequenzieren, um mit Hilfe von bioinformatischen Methoden die Gene zu identifizieren, die für Toxine kodieren [1].
Animal Venomics
© A. VilcinskasAbb. 2 Vogelspinne mit Cheliceren
Im Institutsteil Bioressourcen, des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Gießen, wird eine neue Abteilung „Animal Venomics“ aufgebaut, in der Tiergifte als Bioressource für die Wertschöpfung erschlossen werden sollen. Dabei werden moderne genomische, transkriptomische und proteomische (Omics-) Methoden mit innovativen, bioinformatischen Werkzeugen kombiniert eingesetzt, um effizient und gezielt die in den Giftdrüsen von Gifttieren produzierten Toxine identifizieren und charakterisieren zu können. Ausgewählte Kandidatenmoleküle können dann entweder synthetisch (kleinere Peptide) oder rekombinant (Proteine) in geeigneten Expressionssystemen (z.B. Insektenzellen oder zellfreie Systeme) hergestellt werden, um ihre mögliche Wirkung u.a. gegen menschliche Krankheitserreger, Tumorzellen, Schmerz und Diabetes aber auch gegen Schad- und Vektorinsekten testen zu können.
Das übergeordnete Ziel unseres über das LOEWE-Zentrum für translationale Biodiversitätsgenomik finanzierten Projekts „Animal Venomics“ (siehe Danksagung), ist der Aufbau einer Drug-Discovery-Plattform, in der die Genome von Gifttieren und die Transkriptome ihrer Giftdrüsen als innovative Basis für die auf bioinformatischen Methoden gestützte, effiziente Suche nach neuen Wirkstoffen nutzbar gemacht werden.
Animal Venomics als Drug-Discovery-Plattform
© A. VilcinskasAbb. 3 Australischer Skorpion, Urodacus yaschenkoi (links) und U. manicatus (rechts)
Solche Drug-Discovery-Plattformen sind nicht nur für die pharmazeutische Industrie interessant, auch im Pflanzenschutz agierende Unternehmen sind an neuen Molekülen interessiert, mit denen z.B. innovative Insektizide entwickelt werden können. Letztere findet man mit großer Aussicht auf Erfolg in den Giften von Tieren, die mit diesen ihre Beuteinsekten töten. So wurde der Giftcocktail von Skorpionen über Millionen von Jahren so optimiert, dass diese mit geringsten Mengen ihre Beuteinsekten töten können. Durch diese Hypothese inspiriert, haben wir in Skorpionen aus Australien Peptide entdeckt, die z.B. Blattläuse über einen bisher unbekannten Wirkmechanismus töten können [2] (Abb. 3). Dabei wird nicht zwangsläufig beabsichtigt, diese Peptide als neue Insektizide zu vermarkten, vielmehr können mit diesen Toxinen deren Zielmoleküle in den Beuteinsekten identifiziert werden, um so gezielt Insektizide mit neuen Wirkmechanismen entwickeln zu können.
© A. VilcinskasAbb. 4 Blaupunktrochen, Taeniura lymma, mit Giftstachel auf dem Schwanz
Was Gifttiere betrifft, gibt es Gruppen, die bereits intensiv erforscht werden, während andere vernachlässigt wurden [3]. An diesen sind wir besonders interessiert. So wurden im Rahmen einer aktuellen Promotion systematische die Gifte aus den Giftdrüsen von Stechrochen analysiert. Deren Giftcocktails wurden im Verlauf der Evolution im Hinblick auf ihre Funktion optimiert. Bei den Stechrochen dienen die Gifte der Verteidigung gegen Fressfeinde und werden über einen mit Widerhaken besetzten Stachel auf dem Schwanz in diese injiziert (Abb. 4). Der bekannte australische Tierfilmer Steve Irwin wurde bei Filmarbeiten von einem Stachelrochen durch einen Stich ins Herz getötet. Die systematische Analyse der Toxine in den Giftdrüsen von Stechrochen ist für die pharmazeutische Industrie interessant.
Einheimische Gifttiere im Fokus
© Tim LüddeckeAbb. 5 Wespenspinne, Argiope bruennichi
Die prominentesten Gifttiere stammen allerdings aus den Tropenregionen der Welt und die Erforschung des therapeutischen Potenzials der darin enthaltenen Wirkstoffe wird durch das Nagoya-Protokoll behindert, welches der so genannten Biopiraterie entgegenwirken soll. Vor diesem Hintergrund widmen wir uns im Projekt „Animal Venomics“ bevorzugt einheimischen Gifttieren. So wurde beispielsweise in 2020 die Analyse der Gifte aus der heimischen Wespenspinne Argiope bruennichi [4] (Abb. 5) und der Schlupfwespe Pimpla turionellae publiziert [5]. Das Gift der Wespenspinne ist im Vergleich zu anderen Spinnenarten weniger komplex und enthält neben cysteinreichen Sekretproteinen auch eine neue Gruppe von kleinen Toxinen, die Ähnlichkeit mit Neurotransmittern haben. Bei der Schlupfwespe handelt es sich um einen Parasitoid, d.h. um ein Insekt, das seine Eier in andere Wirtsinsekten legt. Aus diesen schlüpfen Larven, die dann z.B. Schmetterlingsraupen von innen auffressen. Parasitoide injizieren mit ihren Eiern einen Giftcocktail in die Wirtsinsekten, um diese vor deren Immunabwehr zu schützen, ohne sie zu töten. Dabei ist die Funktion der meisten Toxine bisher unbekannt. Weiterhin untersucht die Abteilung gegenwärtig das giftige Sekret des heimischen Feuersalamanders [6].
Danksagung
Das Projekt „Animal Venomics“ (Prof. Dr. Andreas Vilcinskas, Leiter des im Aufbau befindlichen Fraunhofer-Instituts (Fraunhofer IME-BR) sowie Direktor des Instituts für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, und Team) wird über das LOEWE-Zentrum für translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) finanziert, das unter der Federführung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wird (https://tbg.senckenberg.de/tbg-projekt-andreas-vilcinskas-und-team/)
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Infobox
LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik
Das LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) widmet sich der Erforschung der genomischen Grundlagen von Biodiversität. Die in ihrer Bedeutung stark gewachsene Biodiversitätsforschung ist bisher überwiegend organismisch und ökologisch ausgerichtet. Große technisch-methodologische Fortschritte erlauben es nun, Biodiversitätsforschung genomisch und damit zugleich stärker anwendungsorientiert auszurichten. LOEWE-TBG will die grundlegende Erforschung der Genome einer breiten Organismenvielfalt mit der Entwicklung anwendungsfähiger Dienstleistungen und Produkte verbinden. Entsprechend liegt der zentrale Fokus von LOEWE-TBG darauf, die genomische Vielfalt als basale Ebene der Biodiversität für die Grundlagen- und angewandte Forschung zugänglich und nutzbar zu machen. Für die erste Förderphase des Forschungsverbunds, der unter der Federführung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung liegt, wurden 17,6 Millionen Euro für die Jahre von 2018 bis 2021 bewilligt. Das darin eingebettete Projekt Animal Venomics unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Vilcinskas kombiniert verschiedene Omics-Technologien mit innovativen bioinformatischen Analysemethoden, um das Genom von Gifttieren bzw. das Transkriptom von deren Giftdrüsen als Plattform für die gezielte Identifizierung von Peptiden und Proteinen zu ermöglichen. Ausgewählte Toxine werden synthetisch oder in rekombinanter Form dargestellt, um ihr therapeutisches Potenzial in der Medizin oder ihre Anwendung im Pflanzenschutz testen zu können.
https://tbg.senckenberg.de/de/about-us/
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Kategorie: Bioökonomie | Naturstoffgenomik
Literatur:
[1] Lüddecke, T., Vilcinskas, A., Lemke, S. (2019) Phylogeny-Guided Selection of Priority Groups for Venom Bioprospecting: Harvesting Toxin Sequences in Tarantulas as a Case Study, Toxins 11, 488, DOI: 10.3390/toxins11090488
[2] Luna-Ramirez K., Skaljac, M., Grotmann, J., Kirfel, P., Vilcinskas, A. (2017) Orally Delivered Scorpion Antimicrobial Peptides Exhibit Activity against Pea Aphid (Acyrthosiphon pisum) and Its Bacterial Symbionts, Toxins 9, 261, DOI: 10.3390/toxins9090261
[3] von Reumont, B.M., Campbell, L.I., Jenner, R.A. (2014) Quo vadis venomics? A roadmap to neglected venomous invertebrates, Toxins 6(12), 3488–551, DOI: 10.3390/toxins6123488
[4] Lüddecke, T., von Reumont, B.M., Förster, F., Billion, A. et al. (2020) An Economic Dilemma Between Molecular Weapon Systems May Explain an Arachnological-atypical Venom in Wasp Spiders (Argiope bruennichi), Biomolecules 10, 978, DOI: 10.3390/biom10070978
[5] Özbek, R., Wielsch, N., Vogel, H., Lochnit, G. et al. (2019) Proteotranscriptomic characterization of the venom from the endoparasitoid wasp Pimpla turionellae with aspects on its biology and evolution, Toxins 11, 721, DOI: 10.3390/toxins11120721
[6] Lüddecke, T., Schulz, S., Steinfartz, S., Vences, M., (2018) A salamander's toxic arsenal: review of skin poison diversity and function in true salamanders, genus Salamandra. Naturwissenschaften 105, 9-10, DOI: 10.1007/s00114-018-1579-4
Headerbild: Königskobra, Ophiophagus hannah © A. Vilcinskas
Publikationsdatum:
21.12.2020