Im Allgemeinen sind Laboratorien zentrale Drehscheiben für die chemische, biotechnologische, pharmazeutische oder Lebensmittelproduktion. Sie spielen eine Schlüsselrolle in Forschung und Entwicklung, chemischer Analytik, Qualitätssicherung, Instandhaltung und Prozesskontrolle. Für die Prozessentwicklung und -optimierung hat sich die Prozessanalysentechnik (PAT) als leistungsfähiges Werkzeug erwiesen, um das Prozessverständnis zu verbessern, die Produktivität zu steigern, Abfall und Kosten zu reduzieren und die Prozesszeit zu verkürzen.
Gegenwärtig verfügen zentrale analytische Laboratorien über eine große Bandbreite und Tiefe chemisch-analytischer Kompetenz zur Unterstützung der Grundlagenforschung. Prozessbegleitende analytische Laboratorien sind aufgrund ihrer Nähe zur Anwendung und zum Produktionsumfeld von größter Bedeutung für den Anlagenlebenszyklus, d.h. Prozessentwicklung, Scale-up-Unterstützung und Prozessimplementierung. Während der Produktion werden in diesen Labors häufig Inprozess-Kontrollen durchgeführt, da viele Prozesse noch nicht durchgängig mit prozessanalytischen Online-Technologien ausgestattet sind [1, 2].
Während viele Speziallabore mit hohem Probendurchsatz bereits seit Langem hochautomatisiert und in ihren wiederkehrenden Aufgaben optimiert sind, trifft dieses auf die meisten oben genannten Laboratorien aufgrund der hohen Komplexität immer neuer Forschungsaufgaben oder unerwarteter Problemstellungen aus dem Produktionsalltag leider nicht zu. Kann die Digitalisierung hier gewinnbringend eingesetzt werden, ohne die Kreativität und Vielfalt zu beeinträchtigen?
Industrie 4.0 wurde einst für die Fertigungsindustrie konzipiert. Nun kommt das Konzept im analytischen Labor an.
Abb. 1 Der Digitale Zwilling ist ganz generell ein Container für Modellbeschreibungen der physischen Welt („Operative Instanz“), z.B. von einem Labor. Dinge wie Proben, kalibrierte Analysenmethoden oder Analysenergebnisse haben jeweils eine eigene digitale Beschreibung, wie Probeninformationen, die über einen Barcode bezogen werden können, oder ein Kalibrier- oder Datenauswertungsmodell. Das neue an Industrie 4.0 ist, dass auf Basis der Daten (roter Pfeil unten) verbesserte Modelle entstehen können, die wieder im Labor genutzt werden können (roter Pfeil oben) – auch an einem anderen Ort für ähnliche Vorgänge.
Das Ziel von Industrie 4.0 (siehe Infobox) ist die Flexibilisierung der Produktionsprozesse durch ein verbessertes Wissensmanagement – mit Hilfe von Computern. Dazu nutzt man eine digitale Abbildung aller Produkte und Produktionsprozesse. Ein solcher Datencontainer wird „Digitaler Zwilling“ genannt (siehe Abb. 1). Genau genommen vernetzt man die Eigenschaften und Anforderungen an Produkte genauso wie die aktuellen Einstellungen und Fertigungsrezepte der Maschinen mit ihren digitalen Abbildungen. Die Maschinen wiederum können daraus für das individuelle Produkt den jeweils optimalen Produktionsprozess heraussuchen und zur besten Zeit starten. Dadurch lassen sich Geschäftsprozesse optimieren und es entstehen sogar völlig neue Geschäftsmodelle.
„Wenn der Daimler wüsste, was der Daimler schon weiß ...“
Diese Weisheit lässt sich natürlich auf alle anderen großen Konzerne anwenden, für die ein Wissensmanagement aufgrund ihrer Größe und Vielseitigkeit enorm schwierig ist und die zwangsläufig bereits gelöste Probleme ein weiteres Mal lösen müssen, weil sie die Lösung nicht kennen. Das Sammeln und Verfügbarmachen von Wissen ist oft gar nicht so leicht, wie es sich zunächst anhört.
Aber die Digitalisierung kann dabei enorm helfen. So können die gesammelten digitalen Abbildungen aller Produkte und Produktionsprozesse als Basiswissen für weitere Anlagen genutzt werden, obwohl Produktionsanlagen aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht ähnlich sein müssen. Es besteht jedoch die Chance, Prinzipien zu übertragen und gemeinsam zu nutzen.
Die „dumme“ Produktionsmaschine kennt nur sich selbst. Die „schlaue“ Produktionsmaschine kennt immerhin alle anderen im Unternehmen und kann von ihnen lernen. Die „weise“ Produktionsmaschine kennt alle Produktionsmaschinen ihrer Bauart und kann nicht nur von ihnen lernen, sondern ihr Hersteller kann sie auch optimieren. Dazu benötigt er nicht unbedingt vertrauliche Informationen über die an der Maschine gefertigten Produkte. – Dieses ist auch für das Labor und seine Laborgeräte, für die eingesetzten Analysenmethoden und ihre Kalibrierung hochinteressant.
Voll integrierte und intelligent vernetzte Systeme und Prozesse
Heute sind analytische Laboratorien in erster Linie Ansammlungen von in sich geschlossenen Analysenmethoden. Sie sind entweder starr hinsichtlich der Probenbestückung und der Sammlung von Analysenergebnissen, oft mit einem Labor-Informations-Managementsystem (LIMS) vernetzt und automatisiert, dann aber nicht flexibel nutzbar. Andere Analysenmethoden bieten diese Flexibilität, nehmen aber viel Zeit und Aufwand für die Systempflege in Anspruch – von der Methodenentwicklung bis zur Datenübertragung. Ziel wäre es also, beide Vorteile miteinander zu verbinden, Analysengeräte räumlich und zeitlich flexibel zu nutzen, neu miteinander zu kombinieren und dennoch den Überblick über die Daten und die Qualifizierung der Geräte zu behalten – als modulares Labor mit voll integrierten und intelligent vernetzten Systemen und Prozessen.
Dieses wurde schon im ersten Teil dieser Serie festgestellt [3]. Zusammen mit einer vereinfachten Gerätekommunikation wurde der Standard „Module Type Package“ MTP als mögliche Lösung für eine Vereinfachung beschrieben. Es könnte für eine herstellerneutrale, funktionale Beschreibung der Automatisierung von Analysenmethoden beispielsweise zur Integration in Laborumgebungen herangezogen werden. Der Standard wurde in der Prozessindustrie entwickelt, um komplexe, ins sich geschlossene Einheiten (Module) mit einfachem Drag and Drop in eine Automatisierungsumgebung einzubinden, z.B. in ein Prozessleitsystem.
Nun geht es um die zielgerechte Auswahl der geeigneten Analysemethoden, Probenvorbereitungen und Kalibrierung aus dem Wissenspool sowie um die Übertragung dieser Vorschriften auf die Analysengeräte. Das Industrie-4.0-Konzept findet die geeignete Lösung, wenn es sie in der Wissensdatenbank gibt. Beispielsweise wird eine chromatographische Methode vorgeschlagen und die passende Trennsäule gefunden, wenn es ähnliche Trennprobleme bereits irgendwann einmal gab.
Was ist cyber-physical?
Abb. 2 Die Einbindung in cyber-physische Systeme (CPS) erfordert smarte Laborgeräte, die die erforderlichen Eigenschaften aufweisen.
Die digitale Abbildung aller Produkte und Produktionsprozesse im Sinne einer optimalen und für alle verfügbaren Wissensdatenbank ist aber nur ein Teil der Industrie-4.0-Lösung. Neu an der Sache ist der Austausch und die Rückkopplung von Informationen in beide Richtungen: Von den Produkten und Produktionsprozessen in die digitale Wissensdatenbank und – auf Basis der gesammelten Daten und der daraus optimierten Fertigungsrezepte auch umgekehrt. Dieses wurde von Lee [4] in seiner Definition auf den Punkt gebracht: „Cyber-physische Systeme (CPS) sind Integrationen von Computerprozessen und physischen Prozessen. Eingebettete Computer und Netzwerke überwachen und steuern die physischen Prozesse, in der Regel mit Rückkopplungsschleifen, in denen physische Prozesse die Berechnungen beeinflussen und umgekehrt.“
Beispielsweise schlägt die chromatographische Methode eine Optimierung vor, wenn es eine solche Verbesserung des Trennproblems an anderer Stelle gibt. Um dieses zu erreichen, zeichnen sich smarte Laborgeräte (ganz analog zu Sensoren [5]) durch die in Abbildung 2 beschriebenen Eigenschaften aus.
Fazit
In technologischer Hinsicht bedeutet das cyber-physical Lab, dass IT- und Messwissen in Zukunft kombiniert werden müssen. Anwender oder Serviceanbieter müssen nicht nur die Messtechnik, sondern auch eine geeignete Daten- und IT-Infrastruktur bereitstellen, die im Labornetzwerk oder im Unternehmen implementiert wird, um Daten und Wissen zu sammeln und zu übertragen. Die Implementierung von Edge Computing, IT-Plattformen, Cloud Services oder hybriden Cloud-Konzepten zusammen mit geeigneten Sicherheitsstrukturen sind Lösungen, die vielfach bereits verfügbar sind. Die Definition und Harmonisierung der großen Vielfalt an Datenformaten und die Gewährleistung eines sicheren Datentransfers sind jedoch die eigentlich großen Herausforderungen. Eine enge Zusammenarbeit von Spezialisten der verschiedenen Disziplinen ist von größter Bedeutung dabei.
__________________________________________________________________________________________
Infobox
Industrie 4.0 bezeichnet die intelligente Vernetzung von Maschinen und Abläufen in der Industrie mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie. Für Unternehmen gibt es viele Möglichkeiten, intelligente Vernetzung zu nutzen. Zu den Möglichkeiten zählen beispielsweise: Flexible Produktion, wandelbare Fabrik, kundenzentrierte Lösungen, optimierte Logistik, Einsatz von Daten, vorausschauende Wartung oder ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft.
Die „Plattform Industrie 4.0“ ist Zukunftsprojekt des Aktionsplans Hightech-Strategie 2020 der Deutschen Bundesregierung [6].
___________________________________________________________________________________________
Kategorie: Labormanagement | Smart Lab
Literatur:
[1] Eisen, K., Eifert, T., Herwig, C., Maiwald, M. (2020) Current and future requirements to industrial analytical infrastructure – part 1: process analytical laboratories, Anal. Bioanal. Chem., 412, 2027-2035
[2] Eifert, T., Eisen, K., Maiwald, M., Herwig, C. (2020) Current and future requirements to industrial analytical infrastructure – part 2: smart sensors, Anal. Bioanal. Chem., 412, 2037-2045
[3] Maiwald, M. (2020) The internet of things in the lab and in process – The digital transformation challenges for the laboratory 4.0, 2020 Apr 01, https://q-more.chemeurope.com/q-more-articles/313/the-internet-of-things-in-the-lab-and-in-process.html (Ger.: Das Internet of Things in Labor und Prozess – Herausforderungen des digitalen Wandels für das Labor 4.0, 2020 Apr 01, https://q-more.chemie.de/q-more-artikel/313/das-internet-of-things-in-labor-und-prozess.html)
[4] Lee, E. A., Cyber physical systems: design challenges. EECS Dep., University of California, Berkeley. 2008. https://www2.eecs.berkeley.edu/Pubs/TechRpts/2008/EECS-2008-8.pdf (accessed on 2020 May 26)
[5] Maiwald, M. (2018) Voll integrierte und vernetzte Systeme und Prozesse – Perspektive: Smarte Sensorik, Aktorik und Kommunikation, ATP Magazin 60(10), 70–85, DOI: 10.17560/atp.v60i10.2376
[6] BMWi, https://www.plattform-i40.de/PI40/Navigation/EN/Home/home.html (acessed on 2020 Jun 03)
Headerbild: iStock.com | Rost-9D, monsitj
Publikationsdatum:
21.07.2020