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Die Messung der Avogadro-Konstante

Grundlage für die Neudefinition der Einheiten Kilogramm und Mol

Dr. Horst Bettin (Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB))

Seit dem 20. Mai 2019 ist die Masseneinheit Kilogramm nicht mehr durch den Internationalen Kilogramm-Prototypen definiert, sondern durch den Zahlenwert des Planck’schen Wirkungsquantums, der wichtigsten Fundamentalkonstante aus der Quantenphysik. Voraussetzung für diese Definition war die Messung der Planck-Konstante mit höchster Genauigkeit mit zwei unabhängigen Methoden. Eine davon ist das sogenannte Avogadro-Experiment zum Zählen der Atome in einem Siliziumkristall und zur Bestimmung der Avogadro-Konstante. Der Zahlenwert der Avogadro-Konstante definiert im neuen Internationalen Einheitensystem (SI) die Einheit der Stoffmenge, das Mol.

Von 1889 bis zum 20. Mai 2019 war die Einheit der Masse, das Kilogramm, durch einen PtIr-Zylinder definiert, der in einem Safe im Internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres bei Paris aufbewahrt wird. Seit vielen Jahren bestand der Wunsch, mit Hilfe einer Naturkonstante diese Definition zu verbessern, die dann – zumindest im Prinzip – überall auf der Welt benutzt werden kann, um die Masseneinheit darzustellen. Das Internationale Komitee für Maß und Gewicht (CIPM) hat entschieden, hierfür das Planck´sche Wirkungsquantum zu verwenden. Voraussetzung für die Änderung der Definition war aber, dass eine ausreichende Genauigkeit bei der Bestimmung des Zahlenwerts der Planck-Konstante im vorherigen Einheitensystem erreicht wird, und zwar mit zwei unabhängigen Methoden: der sogenannten Watt- oder Kibble-Waage und dem Avogadro-Experiment [1].

Messung der Avogadro-Konstante

PTB

Abb. 1 Topographie einer Kugel aus isotopenangereichertem Silizium; die maximale Abweichung von der idealen Kugelform beträgt weniger als 50 nm.

Die Avogadro-Konstante gibt die Zahl der Teilchen in der Stoffmenge von einem Mol wieder, ca. 6 · 1023 mol–1. Im früheren Einheitensystem war das Mol durch die Anzahl der Atome in 12 g des Kohlenstoffisotops 12C definiert. Dadurch war die Avogadro-Konstante mit der Masseneinheit verknüpft, während im neuen Einheitensystem der Zahlenwert der Avogadro-Konstante festgelegt ist und das Mol definiert.

Im Avogadro-Experiment werden die Atome in einer Siliziumkugel mit einem Trick „gezählt“ [1, 2], indem einerseits das Volumen, das ein Siliziumatom im Kristall einnimmt, und andererseits das Volumen einer Siliziumkugel gemessen werden. Der Quotient dieser Volumina ergibt die Anzahl der Atome in der Kugel (s. Infobox). Das Atomvolumen wird über eine Kombination der Interferometrie von optischer und Röntgenstrahlung gemessen, wobei die Röntgenstrahlung nur zur Detektion der Gitterebenen im Kristall dient und die eigentliche Messung der Gitterebenenabstände mit Hilfe eines optischen Lasers erfolgt. Um das Volumen der Kugel zu erhalten, wird eine komplette Topographie der Kugelform (Abb. 1) erstellt. Dies geschieht interferometrisch, wobei mehr als 500.000 Messwerte einzelner Durchmesser ermittelt werden.

IKZ

Abb. 2 Einkristall aus isotopenangereichertem 28Si [3]

Zur Berechnung der Avogadro-Konstante, also der Anzahl der Teilchen in einem Mol, muss noch die Stoffmenge des Siliziums in der Kugel bestimmt werden. Die molare Masse des Siliziums wird über die Anteile der verschiedenen Siliziumisotope bestimmt. In natürlichem Silizium kommen die stabilen Isotope 28Si, 29Si und 30Si mit Häufigkeiten von ca. 92 %, 5 % bzw. 3 % vor. Leider lassen sich die Isotopen-Anteile in natürlichem Silizium nicht genau genug messen, weshalb man für die genauesten Messungen isotopenangereichertes Silizium verwendet. Dieses im Isotop 28Si hoch-angereicherte Material wird in aufwendigen Prozessen in Russland hergestellt und gereinigt [3]. Der Einkristall wird dann im Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ) in Berlin gezogen (Abb. 2).

PTB

Abb. 3 Schritte im PTB-Herstellungsprozess für fast perfekte Siliziumkugeln [2]

Bisher wurden vier Einkristalle hergestellt, aus denen insgesamt acht fast perfekte Kugeln mit einer Masse von 1 kg poliert wurden (s. Abb. 3). Die genaue Masse dieser Kugeln wird – rückgeführt auf das Internationale Kilogramm-Prototyp (IPK) – im Vakuum bestimmt. Mit der Masse der Kugel und der Anzahl der Atome ist auch die (mittlere) Masse eines Atoms in der Kugel bekannt. Im neuen Einheitensystem können die Kugeln dann benutzt werden, um das Kilogramm darzustellen, d.h. die Masse der Kugel wird aus Messwerten für das Volumen, den Gitterparameter und die molare Masse ausgerechnet [1, 2]. Zusätzlich müssen noch einige kleine Korrekturen angebracht werden. So muss berücksichtigt werden, dass sich auf der Kugeloberfläche in Luft eine sehr dünne Oxidschicht bildet. Außerdem ist der Kristall nicht perfekt, sondern enthält u. a. eine sehr geringe Menge an Verunreinigungen, die früher für die Messung der Avogadro-Konstante und in Zukunft für die Darstellung des Kilogramms eingerechnet werden müssen.

Berechnung der Planck-Konstante

Im Avogadro-Experiment werden eigentlich nur die Zahl der Teilchen in einem Mol und die Masse eines Siliziumatoms bestimmt. Es gibt aber andere Messungen, die die Planck-Konstante mit der Masse eines Atoms oder eines Elektrons verknüpfen, so dass mithilfe der sehr genau bekannten relativen Atommassen das Planck’sche Wirkungsquantum aus der Avogadro-Konstante berechnet werden kann (s. Infobox). Auf diese Weise konnten die Werte sowohl der Avogadro- als auch der Planck-Konstante in einem internationalen Projekt, dem International Avogadro Coordination (IAC) Project, mit einer relativen Standardunsicherheit von nur 1,2 · 10–8 bestimmt werden [2].

PTB

Abb. 4 Messergebnisse für die Avogadro- und Planck-Konstanten, die für die Festlegung der „definierenden Konstanten“ für das Mol und das Kilogramm verwendet wurden. Rote Punkte: Messungen mit Kibble-Waagen, blaue Punkte: Avogadro-Experiment, Quadrat: Mittelwert. Die Unsicherheitsbalken gelten für die Standardunsicherheit.

In der anderen Methode, der Watt- oder Kibble-Waage, werden elektrische Messungen und zwei Quanteneffekte, der Josephson-Effekt und der Quantenhall-Effekt, verwendet um die Planck-Konstante zu messen [1]. Die besten Messwerte der beiden Methoden wurden ausgewählt, um die Zahlenwerte der beiden Konstanten auszurechnen und festzulegen (Abb. 4) [4]:

Planck-Konstante h = 6,626 070 15 ∙ 10–34 kg m2 s–1,

Avogadro-Konstante NA = 6,022 140 76 ∙ 1023 mol–1.

Das beratende Komitee für die Masse und abgeleitete Größen (CCM) und das CIPM entschieden, dass die vorhandenen Messergebnisse ausreichen, um die Konstanten festzulegen und das neue Einheitensystem einzuführen. Allerdings weichen die Messergebnisse z.T. noch etwas zu weit voneinander ab, so dass das CCM entschieden hat, für die Darstellung des Kilogramms in einer Übergangszeit einen internationalen Konsenswert („Consensus Value“) zu verwenden, der durch Schlüsselvergleiche der vorhandenen Experimente bestimmt werden soll.

Zusammenfassung

Die 26. Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) hat am 16. November 2018 eine wichtige Revision des Internationalen Einheitensystems SI verabschiedet. Das Kilogramm ist jetzt durch den Zahlenwert des Planck’schen Wirkungsquantums (und die Einheiten Sekunde und Meter) und das Mol durch den Zahlenwert der Avogadro-Konstante festgelegt. Durch die Verwendung einer Fundamentalkonstante anstelle eines PtIr-Zylinders ist das Kilogramm in Zukunft mit Sicherheit langzeitstabil. In den Definitionen gibt es jetzt keine Hinweise mehr, wie die Einheiten aus den „definierenden Konstanten“ zu realisieren sind. Dadurch sind die neuen Definitionen offen für alle geeigneten Methoden und ermöglichen Fortschritte in Genauigkeit und Anwendungsbereich. Da jetzt auch kein Wert auf der Masseskala mehr besonders ausgezeichnet ist, können direkt beliebige Massenwerte primär gemessen werden, d.h. durch Verwendung der definierenden Konstanten. Dies ist insbesondere hilfreich für kleine Massen unterhalb von 1 mg. Auch atomare Massen können jetzt sehr genau in der Masseneinheit Kilogramm angegeben werden.

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Infobox

PTB / Horst Bettin

Von der Avogadro-Konstante zum Planck’schen Wirkungsquantum

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Kategorie: Im Fokus: Das neue Internationale Einheitensystem | Avogadro-Experiment

Literatur:
[1] Wood, B., Bettin, H. (2018) The Planck constant for the definition and realization of the kilogram, Annalen der Physik 1800308, 9 pp., DOI: 10.1002/andp.201800308
[2] Fujii, K., Bettin, H., Becker, P., Massa, E., et al. (2016) Realization of the kilogram by the XRCD method, Metrologia 53, A19-A45, DOI: 10.1088/0026-1394/53/5/A19
[3] Abrosimov, N. V., Aref’ev, D. G., Becker, P., Bettin, H. et al. (2017) A new generation of 99.999% enriched 28Si single crystals for the determination of Avogadro's constant, Metrologia 54, 599-609, DOI: 10.1088/1681-7575/aa7a62
[4] Mohr, P. J., Newell, D. B., Taylor, B. N., Tiesinga, E. (2018) Data and analysis for the CODATA 2017 special fundamental constants adjustment, Metrologia 55, 125–146, DOI: 10.1088/1681-7575/aa99bc
[5] Cladé, P., Biraben, F., Julien, L., Nez, F., Guellati-Khelifa, S. (2016) Precise determination of the ratio h/mu: a way to link microscopic mass to the new kilogram, Metrologia 53, A75-A82, DOI: 10.1088/0026-1394/53/5/A75

Publikationsdatum: 16.05.2019

Fakten, Hintergründe, Dossiers

  • Avogadro-Experiment
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