Neben dem einfachen Abzählen gehört das Wiegen von Waren zu den elementarsten Vorgängen, welche die Menschheit seit Jahrtausenden praktiziert. Vom Getreidesack auf dem Marktplatz zum hochkomplexen Wirkstoff der Pharmaindustrie, von der Balkenwaage zur elektronischen Analysewaage, vom Zentner zum Mikrogramm. Unbeeindruckt vom Wandel der Anwendung und Technik haben alle Waagen seither eines gemeinsam: Der Wägeteller für das Wägegut ist stets über eine Mechanik mit einer Messeinheit verbunden. So unumgänglich uns diese Tatsache zunächst erscheinen mag – sie zu hinterfragen eröffnet einen völlig neuen Blick auf eine uralte Praktik und bereitet die Bühne für einen Paradigmenwechsel: Was wäre, wenn das, was wir wiegen möchten, die Waage selbst nicht mehr berühren müsste?
Im Rahmen des Projektes SupraMotion erforscht die Festo AG & Co. KG in einem interdisziplinären Team das Potenzial der supraleiterbasierten Levitation (bezeichnet das freie Schweben eines Objektes) für die Automatisierungs-, Analyse- und Prozesstechnik der Zukunft. Das angedachte berührungslose Handhaben von Objekten, räumlich und zeitlich stabil in allen sechs Freiheitsgraden, selbst durch Wände hindurch, würde völlig neue Möglichkeiten eröffnen und ein Überwinden von limitierenden Paradigmen mit weitreichenden Folgen für kontaminations- und störquellenfreie Prozess- und Arbeitsumgebungen der Pharma-, Lebensmittel- und Medizinindustrie der Zukunft bedeuten. Die Folge: Clean Design par excellence!
Ein altes Konzept neu interpretiert
Wiegen bedeutet das Ermitteln der Masse eines Objekts durch Messung von Kräften. Eine Masse erfährt im Schwerefeld eine Gewichtskraft, der die Wägeeinheit eine gleich große Kraft entgegensetzt, sodass ein Kräftegleichgewicht erreicht wird. Dies gelingt im einfachsten Fall durch die Streckung einer mechanischen Feder, kann aber grundsätzlich mit jeder geeigneten Actio-Reactio-Wirkung von Kräften zwischen Wägeteller und messaktiver Wägeeinheit bewerkstelligt werden. Entscheidend ist, dass die von der Wägeeinheit entgegengesetzte Kraft in ein zur Masse proportionales und eindeutig messbares Signal übersetzt, die Waage somit geeicht werden kann. Nirgends muss jedoch vorausgesetzt werden, dass die Gewichtskraft mechanisch übertragen wird. Und genau hier setzt die supraleitende Levitationstechnik an: Zwischen Wägeteller und Wägeeinheit wird eine magnetische Kraftkopplung erzeugt, welche ähnlich einer zwischengeschalteten unsichtbaren Feder die Gewichtskraft berührungslos auf die Wägeeinheit überträgt.
Aber wie ist das möglich? Wer schon mal zwei Magnete in der Hand hatte, wird an der Aufgabe gescheitert sein, den einen über dem anderen schweben zu lassen. Dafür, dass dies nicht etwa an mangelnder Geschicklichkeit liegt, hat die Physik eine Antwort in Form des Earnshaw-Theorems: Eine stabile schwebende Anordnung von Permanentmagneten ist unmöglich. Ein stabiles Kräftegleichgewicht erfordert ein Minimum der potenziellen Energie, sodass Auslenkungen in beliebige Richtungen stets eine Energiezunahme und damit eine rücktreibende Kraft verursachen. Mit statischen Magnetfeldern ist ein solches Minimum nicht realisierbar; in mindestens eine Richtung wird es keine rücktreibende Kraft geben. Entsprechend der Erfahrung würde sich der Magnet, der schweben soll, drehen und sich mit dem anderen verbinden.
Quantenphysik trifft auf Wägetechnik
Das Earnshaw-Theorem kann man nicht außer Kraft setzen, mit Hilfe von sogenannten Typ-II Supraleitern (SL) aber umgehen. Dies sind Materialien, welche unterhalb einer materialspezifischen Sprungtemperatur ihre Eigenschaften schlagartig ändern. Bekannt ist der verlustfreie Stromtransport, wie er in SL-Kabeln zur Energieversorgung eingesetzt und bereits industriell erprobt wird, weniger dagegen der außergewöhnliche Magnetismus. Wie in einem Kupferblech verursacht ein bewegter Magnet im SL Wirbelströme, welche ihrerseits diamagnetische Felder induzieren. Anders als im Kupfer, wo Wirbelströme und Felder aufgrund der Ohm´schen Verluste schnell abklingen, sind sie im SL maximal ausgeprägt und wegen des nicht existenten Widerstandes zeitlich stabil. Zusammen mit dem sogenannten Pinning – einem komplexen quantenmechanischen Effekt, demzufolge ein Magnetfeld beim Eindringen in den SL in Flussschläuche gebündelt und an Gitterdefekte verankert wird – ist es damit möglich, einen Magneten über dem SL im Abstand von derzeit bis zu 20 mm stabil schweben zu lassen.
Festo AG & Co.KGAbb. 1 Stabilisiert durch die Magnet-Supraleiterkopplung durch die Tischplatte hindurch schwebt der Wägeteller berührungslos.
Für den Prototyp der schwebenden Waage, den Festo 2018 erstmalig vorgestellt und derzeit auf internationalen Messen als „SupraSensor“ präsentiert, wurde ein Wägeteller entwickelt, von dem ein speziell geformtes statisches Magnetfeld ausgeht, welches in der Lage ist, durch eine Tischoberfläche hindurch mit Formkörpern aus YBCO – einem Typ-II SL mit Sprung- temperatur –181°C – zu koppeln (Abb. 1). Der SL selbst ist in einem Kryostaten unterhalb der Tischplatte gefasst, welcher die Betriebstemperatur von –210°C bereitstellt. Für den eigentlichen Wägevorgang steht der Kryostat hierbei auf einer Hochpräzisionswaage
der Fa. Mettler-Toledo GmbH und bildet eine kompakte Waagenapplikation, von der nur der schwebende Wägeteller für den Benutzer sichtbar ist: Wird dieser belastet, bewegt er minimal nach unten, komprimiert die magnetische Feder und übersetzt die Gewichts- information 1:1 auf SL, Kryostat und letztlich Waage.
Striktes Clean Design für strengste Anforderungen
Das Konzept ist – je nach Anforderung an die Umgebung, Genauigkeit, und Wägebereich – auch mit anderen Waagen realisierbar und bietet ein enormes Potenzial für die verschiedensten Anwendungen, überall dort, wo höchste Anforderungen an Clean Design, Arbeits- und Prozesssicherheit gestellt werden. So bietet die schwebende Waage die Möglichkeit, den Bauraum einer klassischen Waage radikal zu reduzieren oder einzusparen, um beispielsweise innerhalb einer Sicherheitswerkbank oder eines Isolators, wie man sie häufig im Pharma- und Laborbereich findet, den Platz anderweitig zu nutzen (Abb. 2).
Festo AG & Co.KGAbb. 2 Das Konzept der schwebenden Waage bietet enormes Potenzial für sicherheitsrelevante Anwendungen, beispielsweise in Sicherheitswerkbänken der biologischen oder chemischen Analytik.
Neben dem Zugewinn an Arbeitsraum wird gleichzeitig das Problem der mitunter aufwändigen Reinigung, Desinfektion oder Sterilisation der Waage und ihrer Umgebung massiv vereinfacht, da die Arbeitsflächen und der Wägeteller unaufwändig zu reinigen sind und die eigentliche Waage nicht verschmutzt werden kann. Unzugängliche Kriechspalte an oder unter der Waage stellen keine potenziellen Quellen für eine Querkontaminationsgefahr mehr dar. Die Magnet-SL-Kopplung kann mit einem Handgriff und ohne Schaden getrennt, gereinigt oder, bei Bedarf, durch einen zweiten ersetzt werden. Darüber hinaus ist die Waage bei Bedarf vom Rest der Anlage mechanisch entkoppelt, sodass höchste Anforderungen an Schwingungs- entkopplung erfüllt werden können. Sind Waage und Kryostat mit einem Verfahrsystem verbunden, ist der Wägeteller je nach Anwendungsszenario beliebig in der Ebene positionierbar – anwenderbezogen, ergonomisch und platzsparend.
Darf’s noch etwas mehr sein?
Über das reine Wiegen hinaus ist das Konzept der schwebenden Waage auf alle kraftbasierten Sensor- prinzipien übertragbar. Realisierbar sind kontaktfreie Dichte- oder Viskositätsmessungen, genauso wie das In-situ-Monitoring reaktiver chemischer Prozesse, des Abscheidens oder Anlagerns von Filmen oder biologisch aktiver Vorgänge. Und dies nicht nur in der Laborumgebung eines individuellen Sterilarbeitsplatzes, sondern auch in den rauen Umgebungen vollautomatisierter Fertigungsstraßen oder großvolumiger Reaktoren der Chemie-, Biotechnologie-, Lebensmittel- und Pharmaindustrie.
Die supraleiterbasierte Levitationstechnologie ist ein Paradebeispiel dafür, wie auf Grundlage moderner Festkörperphysik, Materialforschung und kreativem Engineering das Hinterfragen von Paradigmen zu disruptiven Technologien führen kann und damit bislang für unmöglich Gehaltenes zum neuen Standard erheben könnte.
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Infobox
Kompakte Kryotechnik für industriellen Einsatz
Obwohl der verwendete Supraleiter (SL) als „Hochtemperatursupraleiter“ bezeichnet wird, sind immer noch Temperaturen unter –181°C nötig, um ihn in den SL-Zustand zu bringen. In der Forschung gelingt dies mit flüssigem Stickstoff, was für viele industrielle Anwendungen jedoch zu kompliziert ist, da dies aufwändige Installationen und Instandhaltung erfordert. Eine sinnvolle Alternative sind elektrische Kryokühler, die nach dem Vorbild des Stirling-Prozesses arbeiten.
Festo AG & Co.KGAbb. 3 Prinzip der supraleiterbasierten Levitation
Durch abwechselnd isotherme und isochore Zustandsänderungen in einem mit Helium gefüllten Kolben wird Wärme von einem zum anderen Ende transportiert. Damit lassen sich kompakte Kryokühler realisieren, deren Kühlleistung im einstelligen Wattbereich ausreicht, um betriebssichere –210°C zu erreichen. Dies gelingt nur mit einer optimalen Isolation bestehend aus Ultrahochvakuum, Strahlungsreflektoren und isolierender Stoffe, die den SL von der Außenwelt wärmetechnisch entkoppeln.
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Headerbild: iStock.com | gremlin
Publikationsdatum:
28.06.2018