Bereits seit 2006 gibt es eine Gruppe gentechnisch hergestellter Medikamente, die unter der Bezeichnung „Biosimilars“ firmieren. Bis vor einem Jahr blieb diese Gruppe selbst in Fachkreisen eher unauffällig. Das ändert sich jedoch derzeit, da kürzlich ein erster Biosimilar-Antikörper zugelassen wurde. Ärzte und Patienten sind erheblich verunsichert. Plötzlich taucht die Frage auf, warum man von Biosimilars und nicht von Biogenerika spricht. Liegen hier etwa versteckte Probleme?
Vereinfacht kann man unseren Arzneimittelschatz in drei Kategorien einteilen: i. Naturstoffe, ii. chemisch-synthetische Arzneimittel und iii. gentechnisch hergestellte Arzneimittel. Während die meisten Naturstoffe und alle chemisch-synthetischen Arzneimittel relativ kleine Moleküle sind, sind gentechnisch hergestellte Arzneimittel im Vergleich dazu riesig. Sie sind so groß, dass sie sich durch chemische Synthese nicht mehr rentabel herstellen lassen. Stattdessen überlässt man die Herstellung dieser Arzneimittel, die auch als Biopharmazeutika bezeichnet werden – dem Biosyntheseapparat einer lebenden Zelle.
Seit Auslaufen der Patente einiger Biopharmazeutika wurde es prinzipiell möglich, Nachahmerprodukte, gewissermaßen Generika, dieser sehr teuren Medikamente zu entwickeln. Allerdings war immer klar, dass es nicht möglich ist, derartige Nachahmerprodukte wie typische Generika zu entwickeln und zuzulassen. Denn anders als chemisch-synthetische Wirkstoffe sind Biopharmazeutika wesentlich komplizierter aufgebaut.
Komplexe Strukturen
Bei Biopharmazeutika handelt es sich immer um lange Ketten von Aminosäuren, die chemisch über relativ labile Peptidbindungen verknüpft sind. Zudem hängt die Funktion dieser Moleküle von einer ganz bestimmten Faltung dieser Ketten ab. Nur eine von unzähligen Faltungsvarianten liefert ein biologisch aktives Protein, und diese Struktur wird nicht etwa über feste chemische Bindungen, sondern über so genannte schwache Wechselwirkungen stabilisiert. Als Resultat dieser außergewöhnlichen Strukturdetails sieht man sich bei Biopharmazeutika mit Problemen konfrontiert, die bei chemischsynthetischen Wirkstoffen so nicht bekannt sind. Tatsächlich liegen Biopharmazeutika immer als komplexe Gemische verschiedener Molekülformen vor. Denn auch ein Protein, das man beispielsweise aus dem Blut isolieren würde, würde eine solche Heterogenität aufweisen. Allerdings muss für ein Arzneimittel natürlich sichergestellt werden, dass die nicht vermeidbaren Molekülvariationen im Verhältnis zueinander konstant gehalten werden.
Der Herstellungsprozess garantiert die Konstanz der unvermeidbaren Variabilität
Ein derart komplexes Molekülgemisch analytisch zu charakterisieren, war noch vor einigen Jahren undenkbar. Diesem Dilemma begegneten die pharmazeutischen Unternehmen dadurch, dass sie die Herstellungsprozesse in allen Detailschritten exakt festlegten (spezifizierten) und diese Spezifikationen akribisch einhielten. Das Resultat mündete in dem neuen Paradigma: „Das Produkt ist der Prozess.“ Dieses gilt bis heute für alle gentechnisch hergestellten Wirkstoffe.
Die analytische Revolution
Zwischenzeitlich hat sich die Bioanalytik so enorm weiterentwickelt, dass dies einer „analytischen Revolution“ gleichkommt. Heute können tatsächlich auch so komplexe Biopharmazeutika wie Antikörper bis in die feinsten Details chemisch und physiko-chemisch analysiert werden. Das wiederum war die Voraussetzung dafür, patentfreie Biopharmazeutika zu kopieren. Zwar gilt immer noch das Paradigma „Das Produkt ist der Prozess.“ Allerdings ist der Prozess jetzt nicht mehr notwendig der Herstellungsprozess des Originalherstellers. Entscheidend ist, dass sich das Molekül des Originalherstellers (Referenzarzneimittel) und das Nachahmerprodukt (Biosimilar) strukturell und hinsichtlich ihrer Detailkomplexitäten soweit gleichen, dass keine Unterschiede in der Wirkung und der Verträglichkeit zu erwarten sind.
Auch musste für Biosimilars ein komplett neues Regelwerk entwickelt werden, das alle die geschilderten Besonderheiten berücksichtigte. Seit 2004 ist dieses Regelwerk bei der zentralen europäischen Zulassungsbehörde EMA (European Medicines Agency) implementiert, und seitdem können Hersteller bei dieser Behörde einen Antrag auf Zulassung eines Biosimilars stellen.
Exakte Kopie des Originals?
Vereinfacht formuliert ist ein Biosimilar also eine „Kopie“ eines seit Jahren bereits zugelassenen Biopharmazeutikums (Referenzarzneimittel). Da Biopharmazeutika immer eine gewisse molekulare Variabilität aufweisen, kann auch ein Biosimilar mit dem entsprechenden Referenzprodukt strukturell nicht absolut identisch sein. Selbst zwischen unterschiedlichen Chargen des Referenzarzneimittels bestehen typische, nicht vermeidbare Strukturunterschiede [1]. Allerdings sind diese Unterschiede gering und ihr Ausmaß ist durch Spezifikationsgrenzen nach oben und unten strikt limitiert. Dies gilt auch für die minimalen Strukturvariationen zwischen Biosimilar und Referenzarznei, die sich zudem unter keinen Umständen auf die Sicherheit oder Wirksamkeit des Arzneimittels auswirken dürfen. Dies muss durch Daten im Rahmen des Zulassungsverfahrens nachgewiesen werden. Die EMA überprüft diese Daten, und die Europäische Kommission erteilt dann bei einem positiven Votum die europaweite Zulassung.
Mit der Zulassung wird garantiert, dass das Biosimilar genauso wirksam und sicher ist wie die Referenzarznei. Das Biosimilar wird immer in derselben Dosis zur Behandlung derselben Krankheiten verwendet wie das Referenzprodukt. Und Warnhinweise, die bei der Verabreichung des Referenzarzneimittels zu beachten sind, gelten generell auch beim Einsatz des Biosimilars.
Abb.1 Die Herausforderungen für den Hersteller eines Biosimilars
Dreistufige Entwicklung
Die Entwicklung eines Biosimilars erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten. Zunächst müssen auf der ganzen Welt erworbene Chargen des Referenzpräparats nach allen Regeln der bioanalytischen Kunst charakterisiert werden. Bei dieser Analyse wird auch offensichtlich, dass keinesfalls die Wirkstoffe unterschiedlicher Herstellungschargen des Originatorpräparates exakt identisch sind und wie groß die Ober- und Untergrenzen für jeden analytischen Detailparameter sind.
Die Analyseresultate dienen dem Biosimilar-Hersteller dann dazu, analoge Spezifikationsgrenzen für sein Produkt festlegen. Hier steht er vor der Herausforderung, dass diese möglichst exakt denen des Referenzprodukts entsprechen müssen, die er natürlich nicht kennt.
Schließlich muss ein Herstellungsprozess entwickelt werden, aus dem ein Protein resultiert, das alle die vordefinierten Anforderungen erfüllt. Diese werden ausgiebig analysiert – darunter in klinischen Studien auch die Wirksamkeit und die Verträglichkeit.
Abb.1 Die Herausforderungen für den Hersteller eines Biosimilars
Zur Verdeutlichung eine Metapher
Letztlich ist die Herstellung eines Biosimilars nicht mehr und nicht weniger als das Kopieren eines komplexen Moleküls. Um dies besser verstehen zu können, soll das Verfahren anhand einer Metapher noch einmal erläutert werden. Hier geht es darum, einen Designerstuhl legal zu kopieren. Dazu müssen zunächst alle Spezifikationen des Stuhls und mögliche Abweichungen in den Spezifikationen von Stuhl zu Stuhl oder auch zwischen Stühlen unterschiedlicher Produktionsstandorte ermittelt werden. Eine umfassende Analyse und Beschreibung aller relevanter Eigenschaften, wie Beschaffenheit der unterschiedlichen Materialien, der Abmessungen, komplexer Materialkrümmungen, der Farbe, der Haptik etc. sehr vieler Stühle ist hier essentiell. Denn Fakt ist, dass Kopien weder untereinander noch zum Original zu 100 Prozent identisch sein können. Selbst bei Verwendung von Präzisionswerkzeugen für die maschinelle Herstellung werden zumindest im Millimeterbereich leichte Abweichungen unvermeidbar sein. Deshalb werden für alle wichtigen Eigenschaften (Spezifikationen) Spielräume festgelegt, die den Spielraumkorridoren entsprechen sollten, die auch der Hersteller des Originals für sein Produkt definiert hat. Denn auch der kann die Einzelteile – oder im Fall von Biosimilars die Moleküle – nicht von Charge zu Charge exakt identisch produzieren. Wenn dann auf dieser Basis Stühle angefertigt wurden, wird eine detaillierte Dokumentation des Entwicklungs- und Herstellungsprozesses mit einem Muster bei einer Kontrollbehörde eingereicht, die jedes Detail des Originals kennt. Befindet diese nach einer ausgiebigen Prüfung die Umsetzung für gut, dann ist damit behördlich bescheinigt, dass die Kopie dem Original entspricht und dass von der Kopie das gleiche erwartet werden kann, was auch vom Original bekannt ist.
Abb.1 Die Herausforderungen für den Hersteller eines Biosimilars
Die Zulassung
Zurück zum Biosimilar. Hat der Biosimilar-Hersteller seine Variante der Referenzarznei gefertigt, ist es Zeit, einen Antrag auf Zulassung bei der EMA zu stellen. Zur Überprüfung der Daten verfügt die Behörde allerdings über ganz andere Unterlagen als der Hersteller des Biosimilars: Während dieser keinerlei Kenntnisse über die Referenzarznei hatte, kennt die Zulassungsbehörde jedes Detail der Originalarznei.
Der Überprüfungsprozess der EMA ist kompromisslos! Nur wenn ein Biosimilar zweifelsfrei zeigen kann, dass es nicht nur hinsichtlich Wirksamkeit, sondern auch hinsichtlich Qualität und Unbedenklichkeit dem Referenzprodukt gleichwertig ist, wird ihm die Verkehrsfähig- keit in Europa erteilt. So wundert es nicht, dass nicht jeder Biosimilar-Kandidat diese sehr hohen Hürden überwindet.
Sind Biosimilars Biopharmazeutika 2. Klasse?
Diese Frage kann eindeutig verneint werden. Wichtig ist zu beachten, dass ein als „Biosimilar“ deklariertes Biopharmazeutikum tatsächlich auch eine Zulassung durch die EMA erhalten hat. Nur dann ist ein solches Medikament in der EU verkehrsfähig, da nur diese Medikamente auf Vergleichbarkeit zur Referenzarznei nach sehr hohen und in allen Details transparenten Standards geprüft sind.
Literatur:
[1] Schiestl, et al. (2011). Acceptable changes in quality attributes of glycosylated biopharmaceuticals. Nature Biotechnology 29, 310–312
Headerbild: Knoll Barcelona® Chair. Courtesy of Knoll
Erstveröffentlichung:
Dingermann, T.,
q&more,
1.2016.