Was wäre die Medizin ohne Arzneimittel? Aber werden Arzneimittel heute optimal eingesetzt? einesfalls, wie wir heute dank der Erkenntnisse aus der molekularen Medizin wissen. Denn beim Einsatz von Arzneimittel gilt es, zwei Aspekte zu beachten: die Krankheit und den Patienten. Erst langsam wird es möglich, viel stärker auch patientenrelevante Informationen in eine Therapieentscheidung mit einzubeziehen.
Bevor ein Arzneimittel für den Einsatz beim Menschen zugelassen wird, wird es umfänglich getestet – zunächst in unterschiedlichsten biochemisch-pharmakologischen Modellen im Reagenzglas oder im Organbad, dann an verschiedenen Tiermodellen und schließlich an Probanden und Patienten. Dieses gestufte Vorgehen ermöglicht zuverlässige Aussagen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit des Arzneimittels. Und nur wenn eine Nutzen-/Risikoabwägung deutlich zu Gunsten der Nutzenseite ausfällt, wird dem Arzneimittel ein Marktzugang über eine Zulassung durch internationale oder nationale Behörden gewährt.
Allerdings haben diese Aussagen für den Einzelnen eine gewisse Unschärfe, da sie in Form einer mehr oder weniger ausladenden Gauß’schen Verteilung anfallen. Daran haben wir uns gewöhnt, weil es hierzu keine Alternative gibt. Wird allerdings die Testpopulation groß genug gewählt, so zeigen sich teils radikale „Ausreißer“. Betroffene einer solchen Randpopulation bekommen dann mit einem solchen Medikament teils massive Probleme. Denn Ausschläge in Richtung „Unwirksamkeit“ sind ebenso möglich wie Ausschläge in Richtung einer individuellen Überdosierung bei prinzipiell korrekter Anwendung, was sich in Unverträglichkeit bis hin zu akuten Vergiftungserscheinungen äußern kann.
Mit dem in den vergangenen Jahren rapide zunehmenden Sicherheitsanspruch in unserer Gesellschaft können solche individuellen Ausschläge hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit auch ein Arzneimittel selbst in Gefahr bringen. Denn wenn sich Meldungen über eine unzureichende Wirksamkeit oder über in der Zahl geringe, aber in der Ausprägung schwere Nebenwirkungen häufen, kann dies heute schnell zum Verlust der Zulassung führen. Es liegt daher im Interesse sowohl der Patienten als auch der pharmazeutischen Industrie, Maßnahmen zu treffen, die derartige Ausschläge im Hinblick auf Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Arzneimittels vorhersehbar und damit vermeidbar machen.
Ursache dieser individuellen Abweichungen von der Norm sind Unterschiede in der genetischen Ausstattung der Patienten. Diese können so beschaffen sein, indem die Wirksamkeit eines Arzneimittels dadurch aufgehoben wird, dass physiologische „Umwege“ möglich werden. Sie können aber auch Funktionseinheiten (Enzyme und Transporter) betreffen, die natürlicherweise den Wirkstoff modifizieren oder die dem Wirkstoff den Zugang zur Zielstruktur ermöglichen.
Derartige Abweichungen zu erkennen, ist heute vielfach prinzipiell möglich und entsprechende Maßnahmen firmieren unter dem Stichwort „stratifizierte Medizin“. Die Konsequenzen, die sich ergeben werden, wenn dieses technische Potenzial ausgeschöpft wird, werden einem Paradigmenwechsel gleichkommen. Wir werden in absehbarer Zeit einen Wandel von der Behandlung einer Krankheit hin zur Behandlung eines Patienten mit einer ganz bestimmten genetischen Ausstattung erleben.
Viele Beispiele ließen sich aufzählen, wo heute schon eine Therapie entscheidend optimiert werden könnte, wenn für Therapieentscheidung nicht nur krankheitsrelevante Parameter, sondern auch patientenbezogene genetische Parameter einbezogen würden. Diagnostik – und erst recht Gendiagnostik – bekommt hier eine neue Qualität: Das klassische Terrain der krankheitsbezogenen Diagnostik wird durch eine Diagnostik ergänzt, die Aussagen darüber macht, ob und wie Arzneimittel bei einer bestimmten Krankheit wirken können. Diese neuen Möglichkeiten würden gute, verfügbare Therapien noch um vieles besser machen – vor allem bei Patienten, die aufgrund individueller Parameter nicht in den Zenitbereich einer Gauß’schen Verteilung des Outcomes einer klinischen Wirksamkeitsstudie fallen.
Headerbild: iStock.com | D3Damon
Erstveröffentlichung:
Dingermann, T.,
q&more,
1.2011.