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Arzneimittel

Arzneimittel unter Hochdruck

Überkritische Fluide als Lösung(-smittel) für Formulierungsplattformen

Prof. Dr. Martin A. Wahl (Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie)

Typischerweise werden in der Pharmaindustrie neue Arzneistoffe in einem aufwändigen Formulierungs­verfahren mit den für sie geeigneten Hilfsstoffen zur Arzneiform entwickelt. Solche Entwicklungsprozesse werden in den galenischen Abteilungen durchgeführt und führen in vielen Fällen zu für den jeweiligen Arzneistoff individuellen Lösungen. Bei Aussicht auf einen Blockbuster ist dies sicherlich eine gute Methode. Für die Anwendung bei kleineren Chargengrößen oder gar (denkbaren) Individualanfertigungen scheidet diese Methode jedoch aufgrund des damit verbundenen Aufwandes aus.

Eine mögliche Alternative ist die Verwendung von Formulierungsplattformen, bei denen die gewünschten galenischen Eigenschaften (Schnellfreisetzung, Retar­dierung) durch die Plattform vorgegeben sind und ein Wirkstoff erst nachträglich in die Träger (z.B. Tabletten) eingebracht wird. Dazu muss jedoch der Wirkstoff als Lösung in die Träger eindringen und dort präzipitiert werden. Die Verwendung organischer Lösungsmittel scheidet wegen der möglichen Toxizität der auch in kleinsten Mengen nachweisbaren Rückstände jedoch aus. Ein ideales Lösungsmittel wäre daher ein Stoff, der sich komplett verflüchtigt bzw. auch natürlich in der Tablette vorkommt. Dieses Lösungsmittel gibt es, es wird als überkritisches Kohlendioxid (scCO2) bezeichnet und verschwindet am Ende des Herstellprozesses als gas­förmiges CO2 aus diesem.

Überkritische Fluide: CO2 (scCO2)

Abb. 1 Qualitative Darstellung eines Phasendiagramms. Dunkelblau: Sublimationskurve. Hellblau: Schmelzkurve. Gelb: Siedekurve. Oberhalb und rechts des kritischen Punktes auf der Siedekurve beginnt der überkritische Bereich.

Betrachtet man das Phasendiagramm (Abb. 1) eines bei Raumtemperatur flüssigen oder gasförmigen Stoffs zu höheren Drücken und höheren Temperaturen hin, so erreicht man einen Punkt auf der Siedekurve, der als überkritischer Punkt bezeichnet wird. Bei Temperaturen und Drücken oberhalb dieses Punktes verlieren die Flüssig- und die Gasphase ihre Identität, es wird ein Zustand erreicht, in dem ein gemeinsames Eigenschaftsgemisch vorliegt, die Phasengrenze (Siedekurve) verschwindet. Ein so vorliegender Stoff wird als überkritisches Fluid (supercritical fluid, SCF) bezeichnet.

Das überkritische Fluid besitzt eine Dichte und Dielektrizitätskonstante, die der von Flüssigkeiten nahekommt, jedoch eine Viskosität wie Gase. Diese Eigenschaften ermöglichen das leichte Eindringen in Poren und die Auflösung von Substanzen aller Art. Ein SCF eignet sich daher hervorragend als Lösungsmittel. Ist die Auflösung oder die Extraktion beendet, so wird das SCF entspannt. Bei geeigneter Prozessführung kann dabei ein Übergang direkt vom überkritischen in den gasförmigen Zustand erreicht werden, das Lösungsmittel verschwindet schlag­artig. Gleichzeitig sinkt die Löslichkeit für die gelösten Stoffe ebenso augenblicklich. Führt man die Entspannung zum Beispiel über eine Düse durch (rapid expansion of supercritical solutions, RESS), so entstehen feinste Partikel im Submikro- oder Nanobereich, da durch die große Expansionsgeschwindigkeit für eine Kristallisation zu größeren Partikeln keine Zeit bleibt [1].

Tab. 1 Gase und Flüssigkeiten, die sich zur Anwendung als überkritische Fluide eignen

Geeignete Fluide sind Stoffe, deren kritischer Punkt er­warten lässt, dass keine Beeinträchtigung der Eigenschaften der zu lösenden Substanzen eintritt. Daher sollte vor allem die kritische Temperatur nicht allzu hoch sein (Tab. 1). Günstige Beispiele sind CO2, Lachgas oder fluorierte Kohlenwasserstoffe. Die Verwendung von Wasser unter überkritischen Bedingungen (scH2O) verbietet sich für präparative oder Produktionszwecke, da oberhalb der kritischen Temperatur eine Zerstörung der Wirkstoffe zu erwarten ist. scH2O wird daher zur Behandlung von sonst schwer zu beseitigenden Abfällen eingesetzt [2].

Für den Umgang mit überkritischen Fluiden stehen kommerzielle Anlagen im Pilotmaßstab bei Dienstleistern zur Verfügung, großtechnische Anlagen werden zumeist von spezialisierten Fachfirmen angeboten.

Einsatztechniken für SCF in der Pharma- und Nahrungs­mittelindustrie

Grundvoraussetzung für die Anwendung von SCF ist die Löslichkeit der zu bearbeitenden Substanzen im Fluid. Dabei entspricht das Verhalten von scCO2 in Bezug auf seine Lösungsmitteleigenschaften in etwa dem von Hexan. Durch Zusatz von Schleppmitteln (Cosolventien wie Ethanol, die dem SCF dynamisch zugemischt werden) kann eine stärkere Hydrophilie erreicht werden.

Nahrungsmittelherstellung mit SCF

Die klassische Einsatzmethode der SCF ist die überkritische Fluid-Extraktion (Abb. 2). Durch die optimalen Lösungsmitteleigenschaften der überkritischen Fluide können diese z.B. zur schonenden Entkoffeinierung von Kaffeebohnen verwendet werden [3]. Hierzu werden die Bohnen in Hochdruckbehälter mit mehreren Kubikmetern Inhalt eingebracht und mit dem SCF (zumeist scCO2) durchspült. Das so entfernte Koffein kann dann in einem Abscheider abgetrennt und weiterverwendet werden. Je nach Durchspülungsdauer sind die zurückbleibenden Kaffeebohnen dann koffeinarm bzw. entkoffeiniert. Weitere gebräuchliche Extraktionsverfahren sind die Hopfenextraktion für die Bierherstellung oder die Herstellung von Gewürzen und Aromastoffen für die Nahrungsmittel-, Süßwaren- und Kosmetikindustrie. So stammen z.B. in Schokoladen verwendete Aromen aus den scCO2-Extraktionsanlagen eines süddeutschen Aromenherstellers [4]. Die Verwendung dieser im Geschmack genau kontrollierten Aromen hat dabei den Vorteil einer sehr viel besseren Produktchargenkonsistenz als der reine Einsatz unbehandelter Naturprodukte.

Pilotanlage (Hersteller: SITEC-Sieber-Engineering AG, Maur, Zürich, CH) zur Entwicklung von Extraktions-, Beladungs- und Sprühver­fahren mit überkritischen Fluiden bis zu 50 MPa Druck. Im Vordergrund ist der RESS-Sprühbehälter (mit Filtereinsatz) ­ sichtbar, dahinter zwei Extraktionsbehälter mit 5 beziehungsweise 1,5 l Volumen. Die Steuerung und Regelung befindet sich im blauen Kasten im Hintergrund.

SCFs sind auch in der Analytik einsetzbar. So können bei Verwendung von scCO2 aufgrund dessen niedriger Viskosität Trennsäulenlängen realisiert werden, die mit normalen Lösungsmitteln nicht möglich sind.

Umfangreiche Möglichkeiten mit SCF gibt es auch zur Herstellung von Partikeln. Neben der Auflösung im Fluid und einer schlagartigen Entspannung durch Düsen (RESS – Rapid Expansion of Supercritical Solutions) sind dazu auch Antisolvent- und Schmelzextrusionsverfahren entwickelt worden [5].

Herstellung von Arzneimitteln mittels SCF

Im Bereich der Arzneimittelherstellung wird derzeit vor allem die Extraktion mit SCF (Abb. 2) angewendet. Pflanzenextrakte können so schonend, mit guter Ausbeute und völlig ohne Rückstände an Lösungsmitteln gewonnen werden. Diesem Verfahren könnte eigentlich eine viel breitere Anwendung offenstehen, wenn bereits etablierte (d.h. zugelassene) Extrakte, die mit organischen Lösungsmitteln gewonnen werden, auf scCO2 umgestellt werden könnten. Hierbei stellen jedoch die Zulassungsbehörden ein oft unüberwindliches Hindernis dar, da nach deren Ansicht häufig keine ausreichenden Kenntnisse über den Einfluss des SCF auf das Pflanzenmaterial vorliegen und somit das Auftreten (unbekannter) toxischer Produkte nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Allerdings ­gibt es für das Auftreten solcher unerwünschter Produkte bisher keine Hinweise.

Abb. 2 Schematischer Aufbau einer Extraktions- und RESS-Anlage zum Arbeiten mit überkritischem CO2.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit bei der Arzneimittelproduktion ist die Herstellung von submikro- und nanoskaligen Partikeln. Speziell bei in wässrigen Medien (Magen-, Darmsaft) schwerlöslichen Wirkstoffen ist die Verwendung von möglichst kleinen Teilchen in den Arzneiformen eine gute Methode zum Erzielen einer ausreichenden Auflösung und somit Bioverfügbarkeit. Hierzu wird vor allem das bereits erwähnte RESS-­Verfahren eingesetzt (Abb. 2). Problematisch ist bei dieser Methode jedoch die Gewinnung ausreichender Mengen der kleinen Teilchen und ihre Weiterverarbeitung. Agglomeration und statische Aufladung erschweren ihr Handling ungemein.



Formulierungsplattform und Beladungstechnik

Eine Alternative zur Herstellung von Partikeln und deren Weiterverarbeitung ist die Entwicklung einer Formulierungsplattform und das nachträgliche Einbringen von Wirkstoffen in diese Träger. Dabei werden zunächst poröse Träger hergestellt, die eine Kontrolle der Wirkstoff­freisetzung ermöglichen. In der Arbeitsgruppe des Autors wurden solche Träger sowohl auf Pulverbasis [6], auf der Basis von Granulaten [7], aber auch auf der Basis komplexer Systeme wie Tabletten [8] entwickelt. Nach ihrer Herstellung werden diese mit den Wirkstoffen beladen. Dazu wird das Trägersystem gemeinsam mit dem Wirkstoff, der sich in einem getrennten Kompartiment befindet, in einen Inkubator verbracht. Nach Zufuhr von scCO2 löst sich der Wirkstoff im SCF und durchdringt den Träger. Beim Ablassen des Drucks kommt es sodann zu einer Präzipitation des Wirkstoffes auf der äußeren und der inneren Oberfläche des Trägers (Abb. 3).

Abb. 3 Funktionsschema einer Beladung von porösen Trägern mit Arzneistoffen aus überkritischen Lösungen

Dabei ist die erreichbare Beladung abhängig von der Konzentration des Wirkstoffes im überkritischen Fluid und von der verfügbaren Oberfläche des Trägers. Diese setzt sich aus der äußeren Oberfläche des Trägers plus der inneren Oberfläche der Poren zusammen. Die so beladenen Träger zeigen nun ein Wirkstofffreisetzungsverhalten, das gut mit der Auflösungsgeschwindigkeit von durch das RESS-Verfahren gewonnenen Mikropartikeln korreliert und das durch die Trägereigenschaften kontrolliert werden kann. Damit sind sowohl schnell freisetzende als auch verzögert freisetzende Arzneiformen möglich. Auch könnten Nahrungsmittel wie Backwaren mit funktionellen Zusatzstoffen versehen werden. Die Ansatzgrößen in der vom Autor verwendeten Pilotanlage eines Schweizer Herstellers beginnen im Prinzip bei einer Tablette und könnten durch Verwendung großer Inkubatoren, wie ­man sie aus der Entkoffeinierung kennt, fast unbegrenzt erweitert werden.

Literatur:
[1] Tuerk M. (2009) J Supercrit Fluids 47, 537-545
[2] Chiu K-H. et al. (2004) Green Chem 6, 502-506
[3] http://entkoffeinierter-kaffee.com/infos/entkoffeinierungsverfahren.html
[4] www.raps.com
[5] Wahl, M.A.: Supercritical Fluid Technology. In: Dilip M. Parikh (ed). Handbook of Pharmaceutical Granulation. 2009, Informa Healthcare, New York, London
[6] Hussein K, et al. (2007) Pharm Res 24, 585-592
[7] Hussein K, et al. (2008) Eur J Pharm Sci 33, 306-312
[8] Wischumerski RS, et al. (2008) J Pharm Sci 97, 4416-4424

Erstveröffentlichung: Wahl, M. A., q&more, 2.2013.

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