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Das Herz in der Petrischale

Regenerative Medizin stellt eine der großen Zukunftshoffnungen und Entwicklungsperspektiven in der medizinischen Forschung des 21. Jahrhunderts dar. Revolu­tionäre Resultate konnten bereits durch gentechnische Eingriffe erzielt werden, ­wobei allerdings ethische und regulatorische Aspekte einen breiten Einsatz ­derartiger Methoden als fraglich erscheinen lassen. Ein komplementärer Ansatz wird durch die Anwendung niedermolekularer Verbindungen (small molecules) ­eröffnet: Eine rasch zunehmende Anzahl von organischen Molekülen wird derzeit verfügbar, welche die Reifungsprozesse von Vorläuferzellen zu spezifischen ­Gewebetypen beeinflussen können. Somit wird die Tür zu Behandlungsmethoden aufgestoßen, die auf den Grundprinzipien „normaler“ Pharmazeutika beruhen.

Der menschliche Körper verfügt, abhängig von den ­betroffenen Gewebetypen, über eine unterschiedliche Befähigung, beschädigte Organe zu regenerieren. So besitzen etwa Haut oder Leber sehr ausgeprägte Heilungsmechanismen; am anderen Ende des Spektrums befinden sich zum Beispiel Nerven- oder Herzmuskelzellen mit überaus eingeschränkter Regenerations­fähigkeit. Dieser Aspekt spielt zunehmend eine Rolle angesichts der steigenden Lebenserwartungen vor allem in entwickelten Ländern, da ein erfülltes Leben im fortgeschrittenen Alter nur mittels eines weit gehenden Erhalts der Körperfunktionen gewährleistet werden kann. Konsequenterweise genießen demnach Forschungsarbeiten zur Regeneration von Organfunktionen nach einem erlittenen Schaden besonderes Augenmerk. Für etliche zivilisatorische Krankheitsbilder (wie etwa Herzinfarkt, neurodegenerative Krankheiten, Diabetes) existieren derzeit keine Behandlungsformen, die zu einer vollständigen Wieder­erlangung der ursprünglichen Organfunktion führen.

Neues Wissen zur Zelldifferenzierung

Die regenerative Medizin beschäftigt sich genau mit diesen Fragestellungen und Zielsetzungen. Während der letzten Jahre wurden hier bahnbrechende Resultate erzielt, die einerseits unser Verständnis über Differenzierungsprozesse von Vorläuferzellen hin zu gereiften Geweben und Organen erheblich weiterentwickelt ­haben (siehe Infobox „Typen von Vorläuferzellen“); darüber hinaus eröffnen sich damit neue Perspektiven in der Behandlung zur Wiedererlangung der ursprünglichen Gewebefunktion. Die Mehrzahl der bisherigen Ansätze verfolgt hierfür Strategien, die auf der „Umprogrammierung“ von Zellen durch Einschleusen von Trans­kriptionsfaktoren beruhen. Diesen Studien ist es zu verdanken, dass unser Wissen über Zelldifferen­zierung in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat. Allerdings eignen sich gentechnische Eingriffe dieser Art zumeist nur als Werkzeuge in der Forschung und eine breite therapeutische Anwendung scheint fraglich angesichts ethischer Aspekte und regulatorischer Rahmenbedingungen.

Infolge des zunehmenden Verständnisses von Differenzierungsprozessen in Zellen auf molekularer Ebene und der damit verfügbar werdenden Screeningverfahren wurde in den letzten Jahren allerdings auch eine ständig zunehmende Anzahl von niedermolekularen Verbindungen entdeckt, die die Zellreifung zu spezifischen Gewebetypen beeinflussen können. Derartige Verbindungen ähneln gängigen pharmazeutischen Wirkstoffen und bieten demnach wesentliche Vorteile hinsichtlich einer breiten Anwendung in der Therapie: (i) man kann bei der Entwicklung eines derartigen Wirkstoffes auf etablierte Erfahrungen aus der pharmazeutischen Chemie zurückgreifen; (ii) es existieren wohl-etablierte Zulassungsprozesse für nieder­molekulare Wirkstoffe, um diese nach entsprechender Prüfung des Nutzen-Risiko-Profils als Produkt in den Markt einzuführen; (iii) eine Therapie kann während eines definierten Zeitraumes ohne genetische Änderungen im behandelten Organismus erfolgen.

Foto: TU Wien

Gewebe aus dem Reagenzglas. Die Behandlung von patienten­eigenem Zellmaterial mittels niedermolekularer Wirkstoffe könnte in absehbarer Zeit zur Wiederherstellung beschädigter Organfunktion führen.

Leitstrukturen für Herzmuskelzellen

Der Regeneration von beschädigtem Herzmuskelgewebe kommt insbesondere in den Industrienationen große Bedeutung zu, ­zumal Herzinfarkt sowie Folgewirkungen ­davon in diesen Ländern zu den Top-3-­Todesursachen zählen. Die Entdeckung von Cardiogenol C [1] als Hit-Verbindung durch eine Forschungsgruppe in den USA stellte hierfür eine Initialzündung dar (siehe auch Infobox „Small molecules zur Gewebe­regeneration“). Diese Verbindung ist in der Lage, die Ausdifferenzierung von embryonalen Stammzellen Richtung Herzmuskelzellen zu lenken. Dieser Effekt war zwar ­bereits für Naturstoffe wie Retinsäuren bekannt, allerdings lösen derartige Verbindungen häufig einen unselektiven Differenzierungsprozess zu verschiedensten Gewebetypen aus.

Aufbauend auf diesen Resultaten an Cardiogenol C haben wir in den letzten Jahren eine systematische Untersuchung dieser Verbindungsklasse durchgeführt. Dabei kamen insbesondere medizinalchemische Methoden der „Bioisosterie“ zum Einsatz; hier werden Strukturmotive der Leitverbindung durch funktionelle Gruppen ersetzt, die über eine gewisse Ähnlichkeit verfügen, allerdings eine moderate Variation von physikochemischen Eigenschaften erlauben mit dem Ziel, die pharmakologische Wirkung feinabzustimmen. Dazu wurden insbesondere automationsunterstützte Syntheseverfahren angewandt (Mikrowellenchemie, kontinuierlich-flusschemische Synthese), die einen raschen Zugang zu fokussierten Substanzbibliotheken erlauben.

Typen von Vorläuferzellen

Omnipotente / totipotente Stammzellen:
können jeglichen Zelltyp ausdifferenzieren; aus einer einzelnen Zelle kann ein gesamter ­Organismus wachsen

Pluripotente Stammzellen:
können sich in fast alle Zelltypen der drei Keimblätter ausdifferenzieren; häufig synonym für embryonale Stammzellen

Multipotente Stammzellen:
können sich zu verschiedenen Zelltypen eines Gewebetypus ausdifferenzieren

Oligopotente Zellen:
können sich zu wenigen Zelltypen innerhalb eines Gewebetypus weiterdifferenzieren

Unipotente Zellen:
können nur Zellen des gleichen Typs ausbilden

Im Rahmen dieser Arbeiten ist es bislang im Mäusemodell gelungen, die Aktivität der Hit-Verbindung signifikant zu steigern. Mit der Substanz VUT-MK142 konnte zudem eine neue Leitstruktur etabliert werden, die in der Lage ist, nicht nur ausgehend von embryonalen Stammzellen (P19) die Differenzierung zu Herzmuskelzellen einzuleiten, sondern darüber hinaus von bereits vordifferenzierten Vorläuferzellen für Skelettmuskel (C2C12) eine „Umprogrammierung“ zu bewirken. Dies stellt einen wesentlichen Schritt zu einem zukünftigen Einsatz als Behandlungsmethode dar, da somit keine unmittelbare Abhängigkeit von schwierig zugänglichen embryonalen Stammzellen mehr als potenzielle ethische Einschränkung vorliegt. In einer zweiten Generation von Modifikationen wurden anschließend tief greifendere Änderungen an der Leit­struktur durchgeführt (u. a. am zu Grunde liegenden heterocyclischen Ringsystem), die zu Triazinen [2] als neue Strukturklasse mit einem veränderten Aktivitätenprofil geführt haben. Mit der Verbindung VUT-MK142 gelang es letztendlich, autonom schlagende Zellcluster von funktionalen Cardiomyocyten herzustellen [3].

Interventionsziele für Geweberegeneration mittels niedermolekularer Wirkstoffe, die vor allem für „zivilisatorische“ Erkrankungen von Relevanz sind.

Interessanterweise wurde als „Nebenprodukt“ dieser Forschungsarbeiten auch eine Verbindungsklasse identifiziert, die zu einer beschleunigten Differenzierung von Vorläuferzellen zu Skelettmuskelgewebe führt [4]. Langfristig könnte sich somit eine Möglichkeit eröffnen, rascher Muskelfaserverletzungen zu behandeln. Diese Entdeckung ist umso bemerkenswerter, als damit offenkundig wird, wie divers die Beeinflussung von zellulären Entwicklungsprozessen mittels niedermolekularer Verbindungen ausfallen kann. In diesem Zusammenhang ist die Verfügbarkeit von sensitiven Hochdurch­satzverfahren für die Substanztestung von zentraler Bedeutung, um potente neue Leit­strukturen identifizieren zu können.

Allerdings stellt eine induzierte und gerichtete Ausdifferenzierung durch niedermolekulare Wirkstoffe eigentlich nur die zweite Hälfte einer potenziellen zukünftigen Therapie dar, zumal dieser Ansatz stets ­davon abhängt, geeignete Vorläuferzellen in hinreichenden Mengen zur Verfügung zu haben. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass mit der Verbindung Reversine auch eine Leitstruktur identifiziert wurde, welche die Invertierung der Ausdifferenzierung bereits gereifter Gewebezelllinien zu „plastischeren“ Entwicklungsformen (Progenitorzellen) erlaubt; dies wurde anhand der „Rückdifferenzierung“ von Skelettmuskelzellen einschließlich der nachfolgenden gerichteten Ausdifferenzierung zu Osteoblasten oder alternativ zu Adipocyten erfolgreich gezeigt [5].

Teile der dargelegten Forschungsarbeiten wurden in enger Kooperation mit Kollegen der Medizinuniversität Wien durchgeführt.

In Kombination eröffnet sich mit diesen Wirkstoffkandidaten die Perspektive, tatsächlich eine regenerative Gewebetherapie anzustreben, die ihren Ausgangspunkt in leicht extrahierbaren und hinreichend vorhandenen Zelltypen findet. Natürlich müssen die bisherigen Ergebnisse in den meisten Fällen noch vom Tierzellmodell auf humane Zelllinien übertragen werden, sodass ein großes Maß an Grundlagenforschung erforderlich ist. Zudem stellen bei der Regeneration funktionaler Organe Aspekte wie der Aufbau komplexer dreidimensionaler Strukturen aus unterschiedlichen Gewebetypen (ggf. unterstützt durch biokompatible Polymere) sowie eine erfolgreiche Reimplantation in den Patienten mögliche Hürden dar, die erst überwunden werden müssen. Die mögliche Diversität in der Wiederherstellung von beschädigten Geweben spiegelt sich allerdings in der Tatsache wider, dass neben der Regeneration von Cardiomyocyten weitere synthetische Verbindungen identifiziert wurden, die eine Differenzierung etwa Richtung Nervenzellen stimulieren [6] oder die Funktionalität von β-Zellen der Bauchspeicheldrüse zur Insulinproduktion positiv beeinflussen können.

Somit stößt die rasante Entwicklung der letzten Jahre insbesondere im Bereich der Induktion regenerativer Prozesse durch niedermolekulare Substanzen die Tür zu möglichen Anwendungen in der Medizin weit auf und erlaubt es, über neuartige Therapieformen wissenschaftlich fundiert nachzudenken, die noch vor wenigen Dekaden in den Bereich der Science-Fiction verwiesen wurden.

Teile der dargelegten Forschungsarbeiten wurden in enger Kooperation mit Kollegen der Medizinuniversität Wien durchgeführt.

Literatur:
[1] Wu, X. et al. (2004), J. Am. Chem. Soc. 126, 1590
[2] Mihovilovic, M.D. et. al., Austrian Pat. Appl. AT 511441; PCT Pat. Appl. PCT/AT2012/050140
[3] Koley, M. et al. (2013), Med. Chem. Commun. 4, 1189
[4] Schnürch, M. et al. (2011), Bioorg. Med. Chem. Lett. 21, 2149
[5] Chen, S. et al. (2007), Proc. Natl. Acad. Sci. U S A. 104, 10482
[6] Williams, D. R. et al. (2007), Am. Chem. Soc. 129, 9258; Warashina M. et al. (2006), Angew. Chem. Int. Ed. 45, 591
[7] Fomina-Yadlin, D. et al. (2010), Proc. Natl. Acad. Sci. U S A. 107, 15099

Erstveröffentlichung: Mihovilovic, M. D., labor&more, 7.2013.

Fakten, Hintergründe, Dossiers

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