02.11.2022 - Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Bluterkrankheit: Das Immunsystem zur Toleranz erziehen

Studie der Universität Bonn klärt einen wichtigen Immunmechanismus auf

Die Hämophilie A ist die häufigste schwere Form der Bluterkrankheit. Sie betrifft nahezu ausschließlich das männliche Geschlecht. Die Erkrankung lässt sich in der Regel gut behandeln, doch nicht bei allen Betroffenen. Eine Studie an der Universität Bonn hat nun einen wichtigen Mechanismus aufgeklärt, der für die Wirkung der Therapie entscheidend ist. Die Ergebnisse könnten dabei helfen, die Behandlung besser auf die Patienten zuzuschneiden. Sie wurden bereits in einer Vorversion online veröffentlicht; die finale Fassung erscheint demnächst im „Journal of Clinical Investigation“.

Bei Hämophilie A-Kranken ist ein Protein defekt, das für die Blutgerinnung wichtig ist: der Faktor VIII. Zur Behandlung erhalten die meisten Betroffenen daher alle paar Tage eine intravenöse Injektion mit dem funktionsfähigen Gerinnungsfaktor. Doch häufig und besonders zu Beginn der Behandlung erkennt das Immunsystem den gespritzten Wirkstoff als körperfremd und attackiert ihn. Dies ist die schwerste Komplikation der Hämophilie-Behandlung, weil Faktor VIII dann nicht mehr wirken kann.

In diesen Fällen hilft oft eine Immuntoleranz-Therapie, die bereits vor mehr als 40 Jahren ebenfalls am Universitätsklinikum Bonn (UKB) entwickelt wurde. Dabei wird den Bluterkranken über mehrere Monate regelmäßig eine hohe Dosis Faktor VIII gespritzt. Das Immunsystem gewöhnt sich dadurch an das injizierte Protein und toleriert es. „Allerdings klappt das nicht immer“, erklärt Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin des UKB. „Bei etwa 30 Prozent der Patienten führt die Gewöhnung nicht zum Erfolg. Ihre körpereigene Abwehr attackiert also weiterhin das Faktor VIII-Protein und vernichtet es, so dass Faktor VIII nicht zur Behandlung eingesetzt werden kann. Wir wollten wissen, woran das liegt.“

Dazu hat sich das Team zwei Zelltypen des Immunsystems angesehen, die B-Zellen und die regulatorischen T-Zellen. B-Zellen erkennen fremde Moleküle im Körper und produzieren dagegen Antikörper, die die Funktion des Moleküls abschalten. Für den Faktor VIII bedeutet dies, dass er bei der Hämophilie-Behandlung nicht mehr wirksam ist.

Bremse im Immunsystem

Regulatorische T-Zellen verhindern, dass eine Immunreaktion zu stark ausfällt oder zu lange anhält. Die Forschenden haben unter ihnen nun eine neue Art gefunden, die speziell gegen bestimmte B-Zellen vorgehen kann und nicht nur unspezifisch gegen alle Immunantworten. „Wir konnten zeigen, dass die Immuntoleranz-Therapie zur Bildung regulatorischer T-Zellen führt, die ausschließlich B-Zellen gegen Faktor VIII zum Selbstmord veranlassen“, sagt Dr. Janine Becker-Gotot vom Institut für Molekulare Medizin und Experimentelle Immunologie (IMMEI) des UKB. „Diese T-Zellen verfügen über einen Sensor, mit dem sie die entsprechenden B-Zellen erkennen und sich an sie heften. Zusätzlich haben sie die Fähigkeit, den Selbstzerstör-Knopf auf der Oberfläche der B-Zellen zu drücken.“

Dieser Knopf ist ein Molekül namens PD-1. Durch seine Aktivierung startet er in der B-Zelle ein Programm, das zu ihrem Tod führt. Jede aktive B-Zelle verfügt über diesen Knopf. „Wir konnten in unseren Experimenten erstmals regulatorische T-Zellen nachweisen, die diesen Selbstzerstör-Knopf nur bei ganz bestimmten B-Zellen aktivieren können, um ungewollte Immunantworten gezielt zu verhindern“, erklärt der Direktor des IMMEI Prof. Dr. Christian Kurts.

Je mehr PD-1-Knöpfe die B-Zellen gegen Faktor VIII auf ihrer Oberfläche tragen, desto leichter lassen sie sich durch die Immuntoleranz-Therapie in den Selbstmord treiben. „Die PD-1-Menge ist von Person zu Person verschieden“, erklärt Becker-Gotot. „Ist sie von vornherein sehr gering, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass viele Hemmkörper-produzierende B-Zellen überleben und den injizierten Faktor VIII weiterhin neutralisieren.“

Test soll zeigen, bei wem eine Immuntoleranz-Therapie sinnvoll ist

Interessanterweise bilden B-Zellen auch mehr PD-1, sobald sie mit regulatorischen T-Zellen in Kontakt kommen. „Wir können inzwischen testen, wie stark diese Reaktion ausfällt“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn die PD-1-Menge kurz nach Start der Immuntoleranz-Therapie hoch geht und dann auch oben bleibt, ist das ein klares Zeichen dafür, dass sie Erfolg haben wird.“ Das Team entwickelt gerade einen Bluttest, mit dem sich schon während der langwierigen Behandlung erkennen lässt, ob bei den Betroffenen die Immuntoleranz-Therapie anschlägt oder nicht.

„Unsere Erkenntnisse haben großen grundlagenwissenschaftlichen Wert“, erklärt Prof. Kurts, der an der Universität Bonn dem Transdisziplinären Forschungsbereich „Life & Health“ angehört sowie - wie auch Dr. Becker-Gotot und Prof. Oldenburg - Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation ist. „Und zwar nicht nur für die Hämophilie, sondern auch für andere angeborene Erkrankungen, bei denen fehlende Proteine therapeutisch ersetzt werden. Langfristig könnten sie sich auch zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden nutzen lassen.“

Fakten, Hintergründe, Dossiers

  • Hämophilie
  • Hämophilie A
  • Bluterkrankheit
  • Blutgerinnung
  • Immunsystem
  • regulatorische T-Zellen
  • B-Zellen
  • T-Zellen
  • Immuntoleranz-Therapie
  • Bluttests

Mehr über Universität Bonn

  • News

    Covid-Impfung verbessert Wirkung von Krebstherapie

    Menschen mit Nasenrachenkrebs werden häufig mit Medikamenten behandelt, die ihr Immunsystem gegen den Tumor aktivieren. Bislang befürchtete man, dass eine Impfung gegen Covid-19 den Erfolg der Krebstherapie mindern oder starke Nebenwirkungen hervorrufen kann. Eine aktuelle Studie der Univer ... mehr

    Fisch soll bei der Suche nach MS-Medikamenten helfen

    Der Zebrafisch dient Forschenden rund um den Globus als Modell-Organismus: An ihm lassen sich viele wichtige Prozesse studieren, die auch im menschlichen Körper in ähnlicher Form stattfinden. Er wird daher auch für die Fahndung nach möglichen Wirkstoffen gegen Krankheiten genutzt. Forschend ... mehr

    Reparaturtrupp im Moos funktioniert auch im Menschen

    Wenn in lebenden Zellen alles rund laufen soll, dann müssen die Erbinformationen stimmen. Doch leider häufen sich im Laufe der Zeit durch Mutationen Fehler in der DNA an. Landpflanzen haben einen eigenartigen Korrekturmodus entwickelt: Sie verbessern nicht direkt die Fehler im Erbgut, sonde ... mehr

  • q&more Artikel

    Eine bunte Vielfalt an Reaktionen

    Vor dem Hintergrund des anhaltenden Trends zu Nachhaltigkeit, Natürlichkeit und gesunder Ernährung gewinnen pflanzenbasierte Lebensmittelzutaten mit biofunktionellen und technofunktionellen Eigenschaften zunehmend an Bedeutung. mehr

    Goldplasma macht unsichtbare Strukturen sichtbar

    Die Mikro-Computertomographie (μCT) ist in den letzten Jahren zu einer Standardmethode in vielen medizinischen, wissenschaftlichen und industriellen Bereichen geworden. Das bildgebende Verfahren ermöglicht die zerstörungsfreie, dreidimensionale Abbildung verschiedenster Strukturen. mehr

  • Autoren

    Prof. Dr. Andreas Schieber

    Andreas Schieber, Jahrgang 1966, studierte Lebensmittelchemie an der Universität Stuttgart und wurde 1996 an der Universität Hohenheim zum Dr. rer. nat. promoviert. Nach dem Zweiten Staatsexamen am Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart kehrt er 1997 an die Universität zurück un ... mehr

    Dr. Markus Lambertz

    Markus Lambertz, Jahrgang 1984, studierte Biologie mit den Schwerpunkten Zoologie, Paläontologie und Geologie in Bonn (Diplom 2010). Nach einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in Ribeirão Preto (Brasilien) nahm er sein Promotionsstudium in Bonn auf (Promotion 2015). Im Anschluss war er a ... mehr

    Prof. Dr. Jürgen Bajorath

    Jürgen Bajorath hat Biochemie studiert und an der Freien Universität Berlin promoviert. Nach seinem Postdoc-Aufenthalt bei Biosym Technologies in San Diego war er für mehr als 10 Jahre in der US-amerikanischen Pharmaforschung tätig und hatte ebenfalls akademische Posi­tionen, zuletzt war er ... mehr

q&more – die Networking-Plattform für exzellente Qualität in Labor und Prozess

q&more verfolgt den Anspruch, aktuelle Forschung und innovative Lösungen sichtbar zu machen und den Wissensaustausch zu unterstützen. Im Fokus des breiten Themenspektrums stehen höchste Qualitätsansprüche in einem hochinnovativen Branchenumfeld. Als moderne Wissensplattform bietet q&more den Akteuren im Markt einzigartige Networking-Möglichkeiten. International renommierte Autoren repräsentieren den aktuellen Wissenstand. Die Originalbeiträge werden attraktiv in einem anspruchsvollen Umfeld präsentiert und deutsch und englisch publiziert. Die Inhalte zeigen neue Konzepte und unkonventionelle Lösungsansätze auf.

> mehr zu q&more

q&more wird unterstützt von: