01.09.2022 - Technische Universität Wien

Chemielabor auf einem Chip analysiert Flüssigkeiten in Echtzeit

Ein nur fingernagelgroßer Chip ersetzt sperriges Labor-Equipment: Die Anwendungsmöglichkeiten sind extrem vielfältig

An der TU Wien wurde ein Infrarot-Sensor entwickelt, der in Sekundenbruchteilen Inhaltsstoffe von Flüssigkeiten detektiert.

Was machen die Moleküle gerade im Reagenzglas? In der chemischen Technologie ist es oft wichtig, exakt zu messen, wie sich die Konzentration bestimmter Substanzen verändert – oft auf einer Zeitskala von Sekunden. Gerade in der Pharmaindustrie müssen solche Messungen extrem präzise und zuverlässig sein.

An der TU Wien wurde ein neuartiger Sensor entwickelt, der sich dafür hervorragend eignet und mehrere bisher unerreichte Vorteile miteinander verbindet: Durch maßgeschneiderte Infrarot-Technologie ist er deutlich sensitiver als andere Standard-Messgeräte, er ist für einen großen Bereich unterschiedlicher Molekül-Konzentrationen einsetzbar, er kann auf Grund seiner chemischen Robustheit direkt in der Flüssigkeit operieren und liefert damit Daten in Echtzeit, innerhalb von Sekundenbruchteilen. Im Fachjournal „Nature Communications“ wurden diese Ergebnisse präsentiert.

Unterschiedliche Moleküle absorbieren unterschiedliche Wellenlängen

„Um die Konzentration von Molekülen zu messen, verwenden wir Strahlung im mittleren Infrarotbereich“, sagt Borislav Hinkov, Leiter des Forschungsprojekts vom Institut für Festkörperelektronik der TU Wien. Das ist eine bewährte Technik: Viele Moleküle absorbieren ganz bestimmte Wellenlängen im Infrarotbereich, andere Wellenlängen lassen sie durch. So haben verschiedene Moleküle ihren ganz spezifischen Infrarot-Fingerabdruck. Wenn man misst, welche Wellenlängen wie stark absorbiert werden, kann man daher feststellen, wie hoch die Konzentration eines bestimmten Moleküls in der Probe gerade ist.

Besonders in gasförmigen Proben verwendet man Infrarot-Spektroskopie schon lange. Neu ist allerdings, dass es nun gelungen ist, diese Technologie extrem kompakt auf einem etwa fingernagelgroßen Chip unterzubringen, der speziell für Flüssigkeiten geeignet ist. Das ist nicht nur eine technologische, sondern auch eine analytische Herausforderung, weil Flüssigkeiten die Infrarotstrahlung viel stärker absorbieren. Realisiert wurden diese Sensoren in Zusammenarbeit mit Benedikt Schwarz vom Festkörperelektronik-Institut und im Zentrum für Mikro- und Nanostrukturen, dem hochmodernen Reinraum der TU Wien, hergestellt.

„Wenige Mikroliter Flüssigkeit reichen bei uns für eine Messung aus“, sagt Borislav Hinkov. „Und der Sensor liefert Daten in Echtzeit – viele Male pro Sekunde. Man muss also nicht wie bei anderen Technologien eine Probe entnehmen, sie analysieren und dann vielleicht minutenlang auf ein Ergebnis warten. Man sieht exakt, wie sich die Konzentration verändert und in welchem Stadium sich der untersuchte Prozess gerade befindet.“

Die Kollaboration verschiedener Fachrichtungen machts möglich

Möglich wurde das an der TU Wien durch eine Zusammenarbeit von Elektrotechnik und Chemie: Am Institut für Festkörperelektronik hat man jahrelange Erfahrung in der Herstellung von Quantenkaskadenlasern und -Detektoren. Dabei handelt es sich um winzig kleine halbleiterbasierte Bauteile, die durch ihre Mikro- und Nanostruktur dazu gebracht werden, Infrarotstrahlung mit einer präzise definierten Wellenlänge auszusenden oder zu detektieren. Die von einem solchen Laser emittierte Infrarotstrahlung durchdringt die Flüssigkeit auf einer Strecke in der Größenordnung von Mikrometern und wird dann vom Detektor auf demselben Chip gemessen. Aus diesen speziellen, kombinierten ultrakompakten Lasern und Detektoren wurde in Zusammenarbeit mit Bernhard Lendl  vom Institut für chemische Technologien und Analytik nun ein Messgerät, das sich in ersten Praxistests bestens bewährt hat.

Praxistest: Ein Protein ändert seine Struktur

Um die Leistungsfähigkeit des neuartigen Infrarot-Sensors zu demonstrieren, wählte man eine Reaktion aus der Biochemie: Ein bekanntes Modellprotein wurde erhitzt, dabei verändert es seine Form. Zunächst ist es Helix-artig aufgewickelt, bei höheren Temperaturen entfaltet es sich zu einer flachen Struktur. Mit dieser geometrischen Veränderung verändert sich auch das Ausmaß, in dem das Protein Infrarotstrahlung bestimmter Wellenlängen absorbieren kann. „Wir wählten also zwei passende Wellenlängen aus und produzierten entsprechende quantenkaskaden-basierte Sensoren, die wir dann in den Chip integrierten“, sagt Borislav Hinkov. „Und tatsächlich zeigt sich: Man kann mit diesem Sensor die sogenannte Denaturierung des Proteins mit hoher Präzision in Echtzeit beobachten.“

Die Technologie ist extrem flexibel. Ganz nach Bedarf kann man die notwendigen Wellenlängen anpassen, man könnte auf dem Chip auch eine deutlich größere Zahl unterschiedlicher Quantenkaskaden-Sensoren unterbringen und somit die Konzentration unterschiedlicher Moleküle gleichzeitig messen. „Damit eröffnen wir ein neues Feld in der chemischen Analytik: Die Echtzeit-Infrarotspektroskopie in Flüssigkeiten“, sagt Borislav Hinkov. Die Anwendungsmöglichkeiten sind extrem vielfältig – sie reichen von der Beobachtung thermischer Protein-Strukturänderungen, über ähnliche strukturändernde Prozesse in anderen Molekülen bis hin zur Echtzeit-Analyse chemischer Reaktionen, etwa in der pharmazeutischen Medikamentenherstellung oder in industriellen Fertigungsprozessen. Überall dort, wo man die Dynamik chemischer Reaktionen in Flüssigkeiten beobachten muss, kann die neue Technik wichtige Vorteile bringen.

  • Hinkov, B., Pilat, F., Lux, L. et al. A mid-infrared lab-on-a-chip for dynamic reaction monitoring. Nat Commun 13, 4753 (2022)

Fakten, Hintergründe, Dossiers

  • Infrarotsensoren
  • Flüssigkeitsanalytik
  • Inhaltsstoffanalytik
  • Echtzeitanalytik
  • Moleküle
  • Infrarotstrahlung
  • Sensoren
  • Quantenkaskaden-Sensoren
  • Chemische Analytik

Mehr über TU Wien

  • News

    Drei Augen sehen mehr als zwei - katalytische Reaktion mit drei verschiedenen Mikroskopen unter exakt gleichen Bedingungen in Echtzeit verfolgt

    Man muss sehr genau hinsehen, um exakt zu verstehen, welche Prozesse an den Oberflächen von Katalysatoren ablaufen. Bei festen Katalysatoren handelt es sich oft um fein strukturierte Materialien aus winzigen Kristallen. Es gibt verschiedene Arten der Mikroskopie, mit denen man die chemische ... mehr

    Ein Molekül aus Licht und Materie

    Ein ganz besonderer Bindungszustand zwischen Atomen konnte nun erstmals im Labor erzeugt werden: Mit einem Laserstrahl lassen sich Atome polarisieren, sodass sie auf einer Seite positiv, auf der anderen Seite negativ geladen sind. Dadurch ziehen sie einander an und bilden einen ganz speziel ... mehr

    Eine Quantenwelle in zwei Kristallen

    Die Geschichte der Neutroneninterferometrie begann 1974 in Wien. Helmut Rauch, langjähriger Professor am Atominstitut der TU Wien, stellte aus einem Silizium-Kristall das erste Neutronen-Interferometer her und konnte am Wiener TRIGA-Reaktor die ersten Interferenzen mit Neutronen beobachten. ... mehr

  • q&more Artikel

    Wirkstoffsuche im Genom von Pilzen

    In Pilzen schlummert ein riesiges Potenzial für neue Wirkstoffe und wertvolle Substanzen, wie etwa Antibiotika, Pigmente und Rohstoffe für biologische Kunststoffe. Herkömmliche Methoden zur Entdeckung dieser Verbindungen stoßen zurzeit leider an ihre Grenzen. Neueste Entwicklungen auf den G ... mehr

    Organs-on-a-Chip

    Ziel der personalisierten Medizin oder Präzisionsmedizin ist es, den Patienten über die funktionale Krankheitsdiagnose hinaus unter bestmöglicher Einbeziehung individueller Gegebenheiten zu behandeln. Organ-on-a-Chip-Technologien gewinnen für die personalisierte Medizin sowie die pharmazeut ... mehr

  • Autoren

    Dr. Christian Derntl

    Christian Derntl, Jahrgang 1983, studierte Mikrobiologie und Immunologie an der Universität Wien mit Abschluss Diplom. Sein Doktoratsstudium im Fach Technische Chemie absolvierte er 2014 mit Auszeichnung an der Technischen Universität Wien. Dabei beschäftigte er sich mit der Regulation von ... mehr

    Sarah Spitz

    Sarah Spitz, Jahrgang 1993, studierte Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) mit Abschluss Diplomingenieur. Während ihres Studiums war sie für zwei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Biotechnologie (DBT) der BOKU angestellt. Nach einer inte ... mehr

    Prof. Dr. Peter Ertl

    Peter Ertl, Jahrgang 1970, studierte Lebensmittel- und Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur, Wien. Im Anschluss promovierte er in Chemie an der University of Waterloo, Ontario, Kanada und verbrachte mehrere Jahre als Postdoc an der University of California, Berkeley, USA. 2003 ... mehr

q&more – die Networking-Plattform für exzellente Qualität in Labor und Prozess

q&more verfolgt den Anspruch, aktuelle Forschung und innovative Lösungen sichtbar zu machen und den Wissensaustausch zu unterstützen. Im Fokus des breiten Themenspektrums stehen höchste Qualitätsansprüche in einem hochinnovativen Branchenumfeld. Als moderne Wissensplattform bietet q&more den Akteuren im Markt einzigartige Networking-Möglichkeiten. International renommierte Autoren repräsentieren den aktuellen Wissenstand. Die Originalbeiträge werden attraktiv in einem anspruchsvollen Umfeld präsentiert und deutsch und englisch publiziert. Die Inhalte zeigen neue Konzepte und unkonventionelle Lösungsansätze auf.

> mehr zu q&more

q&more wird unterstützt von: