13.04.2022 - Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

Gefährliche Kunststoffe

Die Aufnahme von Mikroplastik kann evolutionäre Veränderungen auslösen

Es ist mit bloßem Auge als solches oft gar nicht zu erkennen und birgt Gefahren, die sich noch nicht genau einschätzen lassen: Mikroplastik gelangt in immer größeren Konzentrationen in die Umwelt und zersetzt sich nur sehr langsam. Die bis zu fünf Millimeter kleinen Kunststoff-Partikel werden durch Wasser und Wind verbreitet. Inzwischen wurde Mikroplastik bereits in allen Ökosystemen nachgewiesen, von der Tiefsee bis zu hochalpinen Gletschern. Sogar ins Gehirn, zum Beispiel von Säugetieren, können diese Partikel gelangen. Obwohl es immer mehr Hinweise darauf gibt, dass die Aufnahme von Mikroplastik – je nach Größe, Menge und Zusammensetzung – schädlich für Organismen sein könnte, ist der Grad der Gefährlichkeit noch nicht abschließend geklärt.

Dass Mikroplastik auch evolutionäre Veränderungen auslösen kann, zeigt nun zum ersten Mal ein internationales Team von Wissenschaftler*innen des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG), des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums Frankfurt (SBiK-F) und des Estnischen Nationallabors für Chemie und Physik. Ihre genomische Studie wurde im Fachmagazin „Chemosphere“ veröffentlicht. Demnach löst die Aufnahme von Mikroplastikpartikeln bei der Zuckmücke Chironomus riparius eine evolutionäre Anpassung aus. In einem Experiment über mehrere Mücken-Generationen wurden sie einer Konzentration von Mikroplastik ausgesetzt, wie sie auch in der Umwelt zu finden ist. Dabei zeigte sich zunächst ein Fitnessverlust, in der Form von Todesraten von bis zu 50 Prozent. Darauffolgend setzte jedoch eine interessante Entwicklung ein: Innerhalb von drei Generationen passten sich die Mücken an die Aufnahme des Schadstoffs an, so dass hinsichtlich der Überlebensraten kein Unterschied zur Kontrollgruppe mehr festzustellen war. Gleichzeitig wurden jedoch in ihrem gesamten Genom Veränderungen registriert, die sich als Grund für diese ungemein schnelle Anpassung deuten lassen. Insbesondere zeigten diejenigen Gene Zeichen von evolutionärer Anpassung, die bei der Bekämpfung von Entzündungen und oxidativem Stress – einem stofflichen Ungleichgewicht in Zellen, das Reparatur- und Entgiftungsfunktionen beeinträchtigt – eine Rolle spielen.

Studien-Autorin Dr. Halina Binde Doria vom LOEWE-Zentrum TBG und dem SBIK-F ordnet die Ergebnisse ein: „Auch wenn sich die Zuckmücken sehr schnell an das Mikroplastik anpassen konnten, ist das nur teilweise eine gute Nachricht. Denn dies spiegelt möglicherweise nicht die Situation in natürlichen Populationen und Ökosystemen wider. Dazu müssen viele verschiedene Faktoren berücksichtigt werden.“ Zum einen zeige die Versuchssituation möglicherweise nicht alle negativen Auswirkungen von Mikroplastik auf das Überleben beziehungsweise die Vermehrungsrate, kurz die evolutionäre Fitness. So beeinflusse zum Beispiel die Aufnahme von Mikroplastikpartikeln direkt oder indirekt die Nährstoffaufnahme im Darm und könne in nährstoffarmen Phasen, zum Beispiel im Winter, negative Auswirkungen haben. Auch könne die Anpassung an Mikroplastik wichtige andere Anpassungen, wie etwa die Kontrolle der Mutationsrate, außer Kraft setzen. Darüber hinaus sei bekannt, dass sich nicht alle Arten so schnell anpassen könnten wie die Zuckmücken. Auf diese hätte Mikroplastik längerfristig schädliche Auswirkungen.

Studienleiter Prof. Markus Pfenninger, ebenfalls am LOEWE-Zentrum TBG und dem SBiK-F tätig sowie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, fasst zusammen: „Unsere Studie zeigt, dass Mikroplastik in der Umwelt das Potenzial hat, die evolutionäre Entwicklung der ihm ausgesetzten Arten für immer zu verändern. Auch wenn unmittelbar schädliche Auswirkungen scheinbar ausbleiben, stellt Mikroplastik eine bisher unterschätzte Bedrohung aller Ökosysteme dar. Wir wollen nun weiter exemplarisch die genomischen Reaktionen der Zuckmücken auf Mikroplastik erforschen, da sie aufgrund ihrer schnellen Fortpflanzungsrate, der leichten Haltung im Labor und des vorhandenen Referenzgenoms für diese Analysen gut geeignet sind.“

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