16.12.2020 - Universität Wien

Umweltgifte beeinflussen Medikamente

Hochauflösende Massenspektrometrie bringt neue Möglichkeiten für Analyse

Körperfremde Moleküle, wie wir sie etwa über die Umwelt oder Nahrung aufnehmen, können die Wirkung von Medikamenten schwächen oder auch verstärken. Das haben z.B. Studien zur Industriechemikalie Bisphenol A sowie zum Sojabohnen-Östrogen Genistein gezeigt. Das Zusammenwirken zwischen Umweltstoffen und Wirkstoffen wurde aber bisher nie systematisch analysiert, schreiben die Chemiker Benedikt Warth und Manuel Pristner von der Universität Wien in einem Übersichtsartikel in "Trends in Pharmacological Sciences". Die moderne hochauflösende Massenspektrometrie eröffnet hier neue Wege – mit großem Potenzial für die personalisierte Medizin.

Die Forschung geht zurzeit von mindestens 10.000 bis 100.000 Umweltgiften und Fremdstoffen aus, denen ein Mensch in seinem Leben ausgesetzt ist und die dieser vor allem über die Nahrung aufnimmt. "Die meisten Stoffe kann unser Körper vermutlich effektiv entgiften – doch verschiedene Verbindungen bzw. deren Kombination können die Wirksamkeit von Wirkstoffen beeinflussen", so Benedikt Warth, stellvertretender Vorstand des Institutes für Lebensmittelchemie und Toxikologie an der Fakultät für Chemie der Universität Wien und Koordinator der neu ins Leben gerufenen nationalen Forschungsinfrastruktur für Exposom-Forschung, EIRENE Austria.

Fragmentiertes Wissen

Dass dem so ist, zeigt ein allseits bekannter Rat in Beipackzetteln: Nach der Einnahme von Antibiotika oder Schmerzmitteln sollte man auf Alkohol verzichten. "Ethanol ist ein gut untersuchtes Zellgift, das die Wirkstoffwirkung verändern kann", so Warth. Ein weiteres prominentes Umweltgift, das praktisch jeder Mensch – in sehr geringen und normalerweise nicht besorgniserregenden Konzentrationen – im eigenen Körper hat, ist Bisphenol A (BPA). Es hat sich gezeigt, dass die vor allem in der Kunststoffproduktion verwendete Chemikalie mit verschiedenen Anti-Krebs-Therapeutika wechselwirkt und darüber zu Medikamentenresistenz und reduzierter Wirksamkeit führen kann.

Genistein, ein aus der Sojabohne stammendes Pflanzenöstrogen und prominenter Wirkstoff in Hormonmitteln gegen Beschwerden in den Wechseljahren, kann ebenfalls verschiedene Wirkstoffe, insbesondere hormonrelevante Chemotherapeutika bei Brustkrebs, beeinträchtigen, wie die Forscher in ihrem Artikel ausführen. In manchen Fällen sind die Effekte negativer, in anderen Fällen durchwegs positiver Natur.

"Unter den Zehntausenden bis Hunderttausenden Molekülen, denen Mensch ausgesetzt ist, könnten unzählige mit Medikamenten interagieren, vor allem unter bestimmten Umständen oder in kritischen Lebensphasen wie die Schwangerschaft oder Pubertät", sagt Doktorand Manuel Pristner.

Exposom & Gesundheit

"Die heutige hochauflösende Massenspektrometrie ermöglicht es uns, eine sehr große Zahl von Molekülen parallel zu messen. So können wir das Beziehungsgeflecht zwischen dem sogenannten Exposom, der Gesamtheit aller messbaren Umwelteinflüsse, und bestimmten Wirkstoffen künftig systematisch untersuchen", so Warth. Es gibt auch immer bessere bioinformatische Algorithmen, um die generierten großen Datensätze auszuwerten.

Suchte die Forschung bisher sehr zielgerichtet nach der Wirkung eines bestimmten Moleküls auf etwa einen bestimmten Rezeptor und damit auf einen Wirkstoff, "können wir mit der heutigen Technologie nicht nur eine Angel, sondern ein Netz auswerfen und erstmals ein groß angelegtes Screening durchführen. Dadurch können wir auch Entdeckungen machen, an die wir durch rationale Hypothesen zuvor nicht gedacht hätten", so die Forscher.

Personalisierte Medizin

Warum gewisse Wirkstoffe bei einem Menschen gut wirken und bei einem anderen Menschen weniger bis gar nicht, kann verschiedene Gründe haben – vom Erbgut, der Ausstattung mit bestimmten Rezeptoren bis hin zur Aktivität bestimmter Enzyme oder einfach chemischer Reaktivität.

Das Zusammenwirken von Exposom und Medikamenten umfassender zu verstehen könnte helfen, Medikamente und ihre Dosis individuell abzustimmen, so dass sie besser und mit möglichst wenig bis gar keinen Nebenwirkungen wirken. Bei einer Person über ein standardisiertes Vorabscreening ihres Exposoms auf die passende Medikation schließen zu können, sei zwar "noch Zukunftsmusik", sagt Warth, "aber der systematische Ansatz könnte bahnbrechend sein und auch schon die Wirkstoffentwicklung unterstützen."

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