13.10.2020 - Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Virale Infektionsverläufe besser verstehen

Virus-Expressionsmodell entwickelt, mit dem sich eine Vielzahl viraler Infektionen simulieren und analysieren lässt – auch die mit SARS-CoV-2

Es ist nur ein 120 Millionstel Millimeter groß und legt doch ganze Staaten lahm: das Corona-Virus. Selbst wenn es eines Tages wieder verschwindet, virale Infektionen werden auch danach zu den häufigen und schwierig zu behandelnden Erkrankungen des Menschen gehören. Selbst jahrzehntelange Forschung hat nur wenige standardisierte Impfstoffe und Behandlungsstrategien gegen eine nur geringe Zahl von Viren hervorgebracht. Auch die viralen Wirkungsmechanismen sind bislang kaum erforscht – ein Grund für Prof. Dr. Guiscard Seebohm und sein Team des Instituts für Genetik von Herzerkrankungen an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, sich genau diesem Thema zu widmen. Jetzt ist dem Team eine wichtige Entwicklung gelungen: Die Arbeitsgruppe hat ein Virus-Expressionsmodell aufgebaut, mit dem sich eine Vielzahl viraler Infektionen simulieren und analysieren lässt – auch die mit SARS-CoV-2.

Deutlich weniger bekannt als SARS-CoV-2, aber auf die gleiche Weise übertragbar, ist das Coxsackie-Virus B3 (CVB3). „Seine Symptome ähneln meist der einer Grippe, das gilt auch für die Erholungsdauer. Nach zwei bis drei Wochen ist der CVB3-infizierte Patient in der Regel wieder gesund, meist ohne offensichtliche Langzeitschäden“, erläutert Guiscard Seebohm. Aber eben nicht immer, ergänzt der Leiter der Abteilung Zelluläre Elektrophysiologie und Molekularbiologie: Neben Akut-Infektionen berge eine virale Infektion auch die Gefahr einer chronischen Infektion. Die Folge kann eine kontinuierliche Schädigung bestimmter innerer Organe sein, die zum Tod führen kann. So können nach Monaten oder Jahren bei einigen der früheren CVB3-Patienten Herzmuskelentzündungen oder eine Diabetes-Erkrankungen des Typs I auftreten. Histologische Untersuchungen bei Betroffenen zeigten teils gravierende Schäden in der Gewebsstruktur. Auch Jahre nach der akuten Infektion belegen Gewebeanalysen das Vorhandensein viralen Erbguts.

Wie es zum chronischen Verlauf einer CVB3-Infektion kommt und wie eine akute Infektion genau verläuft, ist bis heute unzureichend untersucht. Das Forscherteam um Guiscard Seebohm ist in dieser Hinsicht ein großer Schritt nach vorn gelungen: Sie entwickelten ein auf Stammzellen basierendes Expressionsmodell für CVB3, um den Wirkmechanismen dieses Virus' – als Prototyp für Virenwirkung allgemein – auf den Grund zu gehen. Das Modell wurde in einer Studie auf dessen Kontrollierbarkeit in Herzmuskelzellen untersucht, die aus Stammzellen gezüchtet wurden. Dabei integrierte die Forschergruppe die Erbinformation einer nicht-infektiösen Variante des CVB3 in das Erbgut humaner Stammzellen. Letztere können im Labor in beliebiges menschliches Gewebe umgewandelt werden und ermöglichen die präzise Erforschung viraler Mechanismen. Mithilfe eines chemischen Signals kann die Expression von CVB3 gezielt eingeschaltet werden.

„Durch dieses einzigartige und kontrollierbare System lässt sich eine Vielzahl von Krankheitsverläufen simulieren und erstmals mit höchster Präzision analysieren“, betont Guiscard Seebohm. Den Wissenschaftlern gelang es, im Modell die CVB3-Expression sowohl in Stammzellen als auch in differenzierten Herzmuskelzellen zeitlich zu steuern. Zugleich variierten sie die Menge an viralen Proteinen und deren Lokalisation. Das bedeutet, dass sowohl das Ausmaß der Virusinfektion, das Infektionsmuster als auch der Zeitverlauf den jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellungen angepasst werden können.

Durch die Generierung des ersten voll kontrollierbaren Virus-Expressionsmodells in humanen Zellen, dessen erwiesene Funktionalität und die Übertragbarkeit auf den Patienten, eröffnen sich zahlreiche neue Ansätze für die Forschung. Es lässt sich nicht nur die Infektion mit CVB3 und anderen Viren, wie Corona- und Influenzaviren, mit höchster Auflösung untersuchen. Die Grenzen des wissenschaftlich erforschbaren Bereiches werden durch diesen neuen Ansatz erweitert. Folgestudien zur kontrollierten Expression von CVB3 in hiPSC sind bereits in Arbeit und zeigen vielversprechende Resultate. Dr. Stefan Peischard, Erstautor der jetzt publizierten Studie, und seine Teamkollegen von der Arbeitsgruppe Seebohm erhoffen sich einen großen Nutzen für betroffene Patienten.

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