05.02.2018 - Technische Universität Wien

Was macht der Kristall, wenn man ihn spaltet?

Auf verblüffende Weise können sich Atome reorganisieren, wenn man einen Kristall entlang bestimmter Richtungen spaltet. An der TU Wien konnte das nun sichtbar gemacht werden.

Die bemerkenswerte Festigkeit von Kristallen lässt sich auf atomarer Ebene leicht erklären: Positiv und negativ geladene Teilchen sitzen abwechselnd nebeneinander, in einer bestimmten geometrischen Anordnung, die sich unzählige Male wiederholt. Zwischen positiven und negativen Ionen im Kristall herrschen starke Anziehungskräfte, durch sie wird der Kristall zusammengehalten.

Doch wie sieht das auf der Oberfläche des Kristalls aus? Das hängt von der Richtung ab, in der man den Kristall schneidet. Dabei kann es zu komplizierten Effekten kommen, die sich auch für chemische Anwendungen nutzen lassen. Vermutungen dazu gab es schon lange – an der TU Wien gelang es nun, diese Effekte mit Rastertunnelmikroskopen und Rasterkraftmikroskopen abzubilden. Ihre Daten konnten nun, gemeinsam mit Computerberechnungen der Universität Wien, eine Reihe bemerkenswerter Phänomene erklären. Untersucht wurde Kaliumtantalat, ein Kristall aus der Gruppe der Perovskite. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse nun im Fachjournal „Science“, nützlich könnten sie für Technologien wie etwa die Gewinnung von Wasserstoff sein.

Gerade oder diagonal geschnitten

Etwas vereinfacht kann man sich die positiven und negativen Ladungen im Kristall vorstellen wie die schwarzen und weißen Felder auf einem Schachbrett: Entlang der Zeilen und Spalten wechseln sich schwarze und weiße Felder ab, doch wenn man das Muster entlang der Diagonalen betrachtet, sieht man abwechselnd rein schwarze und rein weiße Reihen.

Dasselbe kann man (in drei Dimensionen) im Kristall betrachten: „Spaltet man einen kubischen Kristall entlang einer passenden Richtung, dann müsste man, naiv betrachtet, eigentlich ausschließlich positive oder ausschließlich negative Ladungen an der Oberfläche finden – doch so ein Zustand wäre hochgradig instabil“, erklärt Prof. Ulrike Diebold, die Leiterin der Forschungsgruppe für Oberflächenphysik am Institut für Angewandte Physik der TU Wien. In einem solchen Kristall, der aus rein positiv und rein negativ geladenen Schichten bestünde, würde sich bereits in einer kleinen Materialprobe eine gewaltige elektrische Spannung  von Millionen Volt ergeben – man  spricht von der „polaren Katastrophe“. Um das zu vermeiden, müssen sich die Ladungsträger irgendwie umorganisieren, doch wie sie das machen, war bisher nicht ganz klar.

„Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie die Oberfläche reagieren kann, wenn wir einen Kristall so spalten“, sagt Martin Setvin, der Erstautor der Publikation. „Die Elektronen können sich an bestimmten Stellen sammeln, es kann zu Verformungen des Kristallgitters kommen, es kann passieren, dass sich Atome von außen an die Schnittstelle anlagern.“

Von der Inselgruppe zum Labyrinth

Was man unter dem Rastertunnelmikroskop jedenfalls feststellen kann: Die Teilung des Kristalls verläuft nicht exakt zwischen einer positiv und einer negativ geladenen Schicht. Stattdessen bricht der Kristall zwischen zwei positiv geladenen Schichten, die Hälfte der negativ geladenen Schicht dazwischen geht auf die eine Seite, die andere Hälfte auf die andere. Diese negativen Inseln, die sich auf jeder Seite spontan ausbilden, bedecken genau die Hälfte der Oberfläche – somit ist die Gesamtoberfläche insgesamt elektrisch neutral.

Diese Inseln zeigen ein interessantes, unerwartetes Verhalten: Zunächst nehmen sie zufällige Formen an, ähnlich wie Inselgruppen im Meer. Doch wenn man die Temperatur der Oberfläche erhöht, werden die Atome mobiler und beginnen, ein zackiges Muster aus geraden Linien zu bilden, das am Ende aussieht wie ein Labyrinth. Die „Mauern“ dieses Labyrinths sind nur ein Atom hoch und vier bis fünf Atome breit, wie man auf den Mikroskop-Aufnahmen leicht sehen kann. Berechnungen zeigen, dass tatsächlich genau das die energetisch stabilste Konfiguration ist.

„Diese labyrinthartigen Strukturen haben technisch höchst vielversprechende Eigenschaften“, sagt Ulrike Diebold. „Das ist genau das was man will: Winzige Strukturen, in denen starke elektrische Felder auf atomarer Skala auftreten.“ Man kann sie etwa nutzen, um chemische Reaktionen zu ermöglichen, die nicht von alleine ablaufen würden – etwa das Spalten von Wasser, um Wasserstoff zu gewinnen.

„Solche Technologien kann man nur entwickeln, wenn es gelingt, die atomaren Vorgänge direkt zu beobachten, zu untersuchen und zu verstehen“, betont Martin Setvin. „Deshalb ist für uns die Rasterkraft- und Rastertunnelmikroskopie so wichtig. Erst durch hochauflösende Bilder, auf denen man einzelne Atome beobachten kann, lässt sich verstehen, welche komplizierten Vorgänge auf der Kristalloberfläche ablaufen.“

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